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■ Nebensachen aus ChasanjaDes Rätsels Lösung

Alisch pirscht sich vorsichtig heran. In der Hand hält er einen roten Beutel hochbrisanten Inhalts, der die Gelehrtenwelt auch im Westen in Turbulenzen stürzen würde ... Eigentlich war Vorsicht geboten. Doch warum nicht der Einladung folgen und am Abend bei seinem Kollegen vorbeischauen? Rentner Alisch verbringt seine Zeit als Etruskologe. Freund Dalchat ist indes das kulturwissenschaftliche Gewissen des kleinen Volkes der turksprachigen Balkaren, die von den Russen nicht gerade sanft angefaßt wurden. Seit dreißig Jahren sammelt er Gedichte, Lieder und Legenden.

Wer hätte es ahnen wollen? Wir befinden uns mitten in der Wiege des vorgeschichtlich euroasiatischen Kulturübergangs- und -spannungsfeldes. Die beiden Laienforscher sind nicht mehr zu bremsen. Die interdisziplinäre Beweisführung, daß hier an der Nordseite des Kaukasus der Schlüssel zum Verständnis nicht allein der frühgeschichtlichen Entwicklung Europas, sondern auch die Lösung des etruskischen Rätsels liegt, duldet kein Verschnaufen. Wer waren, was sprachen und woher kamen sie? Das Enigma ist gelöst, jedenfalls in Chasanja bei Naltschik. Den Schlüssel liefern die Balkaren (um die 100.000 Seelen), deren ethnischer Ursprung bisher als nicht geklärt galt. Nur soviel steht fest: Sie gehören nicht zu den autochthonen Völkern des Kaukasus.

Weit gefehlt! Die Etrusker, stellt sich heraus, haben sich von ihrer Familie – den Balkaren – abgesetzt und sind über den Landweg nach Westeuropa gezogen. Aeneas, der Gründer Roms in der asiatischen Version der Sage, hat somit – nach dem Debakel von Troja – nicht direkten Kurs auf die apenninische Halbinsel genommen. Er trat den schweren Weg durch die Gipfelwelt des Kaukasus an.

Die Etrusker gingen unter, doch hinterließen sie in allen europäischen Sprachen ihr Zeugnis. Und im Kaukasus ihre unverwüstbaren Urväter ... Derweil überschlagen sich die beiden Sprachwissenschaftler. Eine etymologische Ableitung jagt die nächste, am schöpferischsten erweist sich Alisch. Lateinisch aqua (Wasser) entspringt dem türkischen „ak var“ – „es gibt weiß“. Selbst im angeblich ungarischen „kodak“, dem Fotomagnaten, findet sich die Quelle wieder. „Ko tak“, was in Dalchats Idiom einer geschlechtlichen Ferkelei entspricht. Das russische Sistra indes – Schwester – verwandelt sich unter ihrem Zugriff in „Frau, die Wasser bringt“. Begründung: „Männer machen so was nicht bei uns.“

Überhaupt sei das Russische nur ein zusammengeklautes Idiom. Der Hausherr hört da lieber weg. Dalchat nimmt ein russisches Wörterbuch zur Hand: „Emissio“, seine Version „em“ geht auf eine sumerische Wurzel zurück – Milch, Brust, saugen oder so ähnlich. Die beiden sind begeistert und gratulieren sich gegenseitig.

Ob der Gast womöglich müde sei? Sie drohen bis zum Morgengrauen weiter zu deuten. Tabak und Alkohol sind tabu. Die Töchter schauen kurz herein und bekunden dem Besucher mit flüchtig keuschem Blick Mitgefühl. Sie haben den Alten schon unters Dach ausquartiert. Hier törnt allein die Liebe zur Erkenntnis an oder eher der pathologische Drang eines erniedrigten Volkes, sein Existenzrecht einzuklagen. Muß es deswegen allen anderen überlegen sein? Der Eifer läßt diese Frage gar nicht zu. Klaus-Helge Donath

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