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Wie klingt Schnee

■ Caroline Links Debüt "Jenseits der Stille", ein Film über Gehörlose, Erwachsenwerden und alles andere Lebenspipapo

Leise rieselt der Schnee, irgendwo in der gemütlichen deutschen Bergprovinz. Ein verbeulter Passat schleppt sich knirschend in die Hauseinfahrt. Es ist kurz vor Weihnachten. Vater steht in der wohlig leuchtenden Werkstatt, Mutter bastelt am Gebäck, die Tochter schaut ihr zu. Alles klasse gemütlich, nicht mal besonders spießig. Schnell möchte man den Kinosessel verlassen und sich heimlich zu dieser Musterfamilie an den Tisch setzen und Plätzchen kauen. Nur eins ist merkwürdig: die drei verständigen sich nicht mit Worten, sondern mit Handbewegungen und Zeichen, die unsereiner nie gelernt hat (nicht mal im Berliner Kumpelnest, einem Szenetreffpunkt Gehörloser).

Die 1964 geborene Regisseurin Caroline Link hat sich für ihr Kinodebüt „Jenseits der Stille“ nicht gerade wenig vorgenommen. Die Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film recherchierte (vor allem in den USA) rund drei Jahre an einer Geschichte, die im deutschen Spielfilm wohl ihresgleichen sucht. Das Thema Gehörlosigkeit zum zentralen Motiv eines Films zu machen, dürfte die Finanzierung nicht unbedingt erleichtert haben. Denn alles, was nach Problemfilm riecht – vor allem zu Zeiten fließbandartiger Komödienproduktion, die den Marktanteil deutscher Filme auf 20 Prozent steigen ließ –, riecht schnell nach den nicht sehr lustigen bleiernen Zeiten deutschen Autorenfilms.

Probleme, Spaß, Liebe, Erwachsenwerden – all das wollte Caroline Link in ihren ersten großen Film reinpacken: „Daß das Publikum Komödien liebt, ist nicht zu übersehen. Aber genauso schauen sich die Leute ,Dead Man Walking‘ und ,Leaving Las Vegas‘ an. Der einzige Unterschied: diese Filme kommen aus Amerika. In amerikanischen Filmen weinen die Leute gerne. Egal ob's um Autisten, Alkoholiker oder Todkranke geht.“

Daß Links Film, der sogar einem Berufszyniker wie mir am Ende plötzlich Tränen in die Augen trieb, sehr wahrscheinlich auch ein großer kommerzieller Erfolg werden könnte, hat typischerweise der deutsche Ableger der Disney- Tochter Buena Vista zuerst gerochen. Die Amerikaner, die seit einiger Zeit versuchen, mit deutschen Filmen Marktanteile zurückzuerobern, waren nach vielen Drehbuchablehnungen die ersten, die zugriffen. Neben dem üblichen ARD- und Filmförderbenefiz begeisterte sich auch ein Herr für das Projekt, dessen Firma der deutsche Nachkriegsfilm 130 Filme verdankt und die alle Moden überlebte: Luggi Waldleitner. „Okay, schönes Buch, mach' ich!“

Daraufhin machte man sich auf Schauspielersuche. Link, der nach ihren Amerika-Aufenthalten die krampfige Umgangsweise mit den vermeintlich „Behinderten“ hierzulande besonders auffiel, stellte sich ein internationales Team zusammen. Gebärdensprache aber ist nicht international. Damit der Amerikaner Howie Seago (Laras Vater), aufgewachsen mit ASL (American Sign Language), und die Französin Emmanuelle Laborit, aufgewachsen mit der französischen Gebärdensprache LSF, sich verständigen konnten, lernten sie beide die deutsche Gebärdensprache. Nebeneffekt: deutsche Gehörlose verstehen den Film. Auf dem Set agierten mehrere Zeichendolmetscher.

Link: „Ich habe kein Mitleid empfunden mit Gehörlosen – nicht, wenn sie ihr Leben so leben können, wie sie es selbst für richtig halten. Leider ist das in Deutschland nicht selbstverständlich.“

Derlei Unbefangenheit merkt man dem Film an. „Jenseits der Stille“ droht zwar ein paarmal unter schwerem Gefühlslametta ins Kitschige abzudriften. Laras Eltern aber sind dafür nicht der Grund. Eher schon die Häufung obergemütlicher Anlässe. Zweimal allein ist Weihnachten. Nein, Link gelingt etwas, das leider ein wohl einmaliges Kunststück im deutschen Kino bleiben wird: Behinderte sind in ihrem Film genauso liebenswürdig wie hassenswert – wie jeder andere Mensch auch. Laras Vater beispielsweise ist ein ganz normaler Vater, der seine Tochter an sich binden möchte. Er ist manchmal gemein, ungerecht und zornig, manchmal liebevoll. Und verzweifelt. Vor allem, wenn seine Tochter gnadenlos ihre Macht ausnutzt, die einzige Verbindung der Eltern in die Welt der Hörenden zu sein. Lange hat man nicht etwas so, tja, Wahrhaftiges und unkitschig Rührendes gesehen wie die achtjährige Lara, wie sie vor dem Fernseher auf dem Teppich hockt und ihrer Mutter die absurden Seriendialoge simultan in Gebärdensprache übersetzt.

Die Leiden, die Lara in der Schule durch blöde Hänseleien abbekommt, und ihre Einsamkeit zu Haus kompensiert sie beim Dolmetschen, als die Lehrerin den Eltern eine Schelte übermitteln will. Auch in der Bank, als ein Kredit zu platzen droht, lügt die kleine Diplomatin bei der Übersetzung Schulden in Guthaben um. Gemein kann die Kleine werden und den Vater zum Schreien mit den Händen und manchmal auch dem Mund bringen. In einträchtigen Momenten erklären sich beide ihre Welten: „Wie klingt Schnee, wenn er auf die Wiese fällt?“ fragt der Vater. „Alles ist dann viel leiser, wie in Watte gehüllt.“

Im zweiten Teil des Films sehen wir eine andere, ältere Lara. Und auch die nun pubertierende, gespielt von der Französin Sylvie Testud, mogelt sich schnell in unsere längst offenliegenden Herzen. Das Elternhaus rückt aus dem Blickfeld. Lara wird zur kleinen Dame, zieht nach Berlin, lernt Klarinette, verliebt sich und all so was, aber das ist wieder eine andere Geschichte... Andreas Becker

„Jenseits der Stille“. Regie: Caroline Link; mit Sylvie Testud, Tatjana Trieb, Howie Seago, Emmanuelle Laborit. BRD 1996

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