: Als die Verwandten Ausländer wurden
■ Die Grenzen zwischen den GUS-Staaten haben viele Familien getrennt. Und für Besuche fehlt das Geld
Die Züge, die die alte UdSSR durchmaßen, trugen nicht nur SowjetbürgerInnen ihren Zielen zu, sondern auch Kisten und nach Rollschinkenmanier verschnürte Säcke. Die SchaffnerInnen sorgten dafür, daß Weintrauben aus Moldawien nach Leningrad kamen, weißrussische Pilze in den Ural und grusinische Granatäpfel nach Moskau. Von der Schwiegermutter für die Schwiegertochter, vom Sohn an die Eltern und von der Tante an den Neffen. Heute mag niemand mehr fremdes Hab und Gut über die neuen Zollgrenzen transportieren. Und in den Herzen der betroffenen Familien haben die ausbleibenden Delikatessen eine größere Leere hinterlassen als in ihren Mägen. Der Journalist Dmitri Tulschtschinski, genannt Dima, ein sportlicher Vierziger, und sein gleichaltriger Kollege Dmitri Perewalow – gerufen wird er ebenfalls Dima –, arbeiten seit über zehn Jahren bei der Nachrichtenagentur APN in Moskau. Sie gehören nicht zu den Zukurzgekommenen. Und doch stimmen beide regelmäßig ein gemeinsames postsowjetisches Klagelied an: „Wie hart ist es doch, wenn die Familie der eigenen Frau plötzlich im Ausland wohnt!“
Dmitri Tulschtschinskis Ehefrau Saida, ihres Zeichens Mikrobiologin, ist Aserbeidschanerin. Ihre Eltern sind verstorben. Und sie, die gerne kocht, denkt schon lange nicht mehr daran, sich Gelbwurz und Kurkuma oder aserbeidschanischen Kognak von ihren Geschwistern schicken zu lassen. Nicht deshalb, weil es dies alles jetzt auch in Moskau zu kaufen gibt. Sondern zum einen, weil seit zwei Jahren keine Züge mehr nach Aserbeidschan gefahren sind – die einzige Strecke führt durch Tschetschenien. Zum anderen, weil ihre Geschwister kaum wissen, wovon sie selbst leben sollen.
Der heutige russische Durchschnittsverdienst von umgerechnet 300 Mark pro Monat erscheint Saidas Bruder als unerschwinglicher Reichtum. Als Arzt in einem Bakuer Krankenhaus verdient er gerade 120 Mark. Seit einem Jahr steht bei Saida ein Kinderbett, das ihr Bruder für seinen Sohn dringend benötigte. Aber es scheint, daß dieser Neffe aus dem Möbelstück herauswachsen wird, ohne es je zu Gesicht zu bekommen. Die Fluggesellschaften nehmen sperriges Gut nicht an. Das Ticket Moskau–Baku kostet eben jene 200 Dollar, die Saidas Monatsverdienst ausmachen. Und den hat sie, wie viele WissenschaftlerInnen im Staatsdienst, seit drei Monaten nicht mehr bekommen. „Früher flog sie los, wann immer es ihr danach zumute war. Und ich konnte sie begleiten“, erinnert sich Dima Tulschtschinski: „Heute müssen wir froh sein, wenn sie allein fliegen kann – einmal im Jahr. Damals haben sie dir in Baku nur pro forma in den Paß geschaut. Heute drehen sie ihn zehnmal um.“
Während die Reiseformalitäten innerhalb der GUS für deren BürgerInnen lästig sind, können sie im Falle der baltischen Staaten die Einreise ganz unmöglich machen. GUS-BürgerInnen brauchen dafür ein Visum und einen speziellen Auslandspaß, über den noch längst nicht jeder verfügt. Dmitri Perewalow und seine Frau, die inzwischen eingebürgerte Lettin Liene, lernten sich in einem Sommerlager für EsperantistInnen kennen. Doch ihr Interesse an dieser Sprache und ihr internationalistischer Enthusiasmus haben sie nicht davor bewahrt, die Folgen erwachenden Nationalbewußtseins schmerzlich am eigenen Leibe zu verspüren. „Neulich konnte meine Frau nicht zur Beerdigung ihres Onkels fahren“, erzählt Perewalow: „Auf seinen Tod folgten einige Feiertage. Um in solchen Fällen ein Eilvisum zu bekommen, muß man die Unterschrift eines Arztes vorweisen. Das Dokument sollte man sicherheitshalber jemandem mitgeben, der mit dem Zug herkommt.“
„Ja“, fügt der akkurate Mann verschmitzt hinzu: „neulich ist in meiner lettischen Bekanntschaft ein alter jüdischer Herr gestorben, dessen Söhne in Israel, Moskau und St. Petersburg leben. Als einziger war der Sohn aus Israel sofort zur Stelle. Der Moskauer Sohn kam zu spät zur Beerdigung, weil es mit dem Visum so lange gedauert hatte, und der St. Petersburger hatte vergessen, einen Auslandspaß zu beantragen.“
Lienes Eltern können ihre beiden Enkel kaum noch in Moskau besuchen. Visagebühren und Reisekosten sind zu hoch. Obwohl Lienes Mutter ihr Leben lang als Fabrikarbeiterin geschuftet hat, muß sie auch nach der Pensionierung dazuverdienen. Mieten und Gebühren für Wasser, Gas und Müllabfuhr sind in Riga um ein Vielfaches höher als in Moskau. Aber auch Liene und die Kinder kommen aus finanziellen Gründen nur noch selten nach Hause. Da kann schon eher Dima Perewalow eine Dienstreise in die lettische Hauptstadt herausschlagen. Bei solchen Gelegenheiten besuchte er früher gerne seine Schwägerin in der estnischen Grenzstadt Viljandi, die von Riga aus schnell mit dem Bus zu erreichen ist. Heute muß er dafür extra ein estnisches Visum beantragen.
Beide Dimas hegen keine große Hoffnung, daß sich ihr gemeinsames Problem in naher Zukunft lösen könnte. Während sich die baltischen Staaten einen schnellen Aufschwung von einer ausschließlichen Orientierung nach Westen versprechen, schreckt Moskau vor einer engeren Union mit den bettelarmen übrigen GUS-Staaten zurück.
Den Pensionären geht es fast überall gleich schlecht. Und so gilt wohl für jede Familie, deren Mitglieder über zwei oder mehr Staaten auf dem Ex-UdSSR-Territorium verstreut leben, was Dima Tulschtschinski über sich und seine angeheirateten Verwandten sagt: „Früher waren wir uns näher. Wir sind nun nicht nur geographisch auseinandergerückt, sondern auch sozial. Was früher eine Familie aus sowjetischen Einheitsmenschen war, zerfällt heute in Privilegierte und Benachteiligte.“ Barbara Kerneck, Moskau
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