"Wir haben den Totenschein ausgestellt"

■ Weißrußlands ehemaliger Parlamentspräsident, Stanislaw Schuschkewitsch, über das juristische Ende der Sowjetunion, fünf Jahre Unabhängigkeit des Staates Weißrußland und die Zukunftsperspektiven sein

taz: Vor fünf Jahren haben Sie mit den Präsidenten Rußlands und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, per Federstrich die Auflösung der Sowjetunion verfügt. Waren sie die Totengräber der UdSSR.

Stanislaw Schuschkewitsch: Wir haben die Sowjetunion nicht beerdigt. Das haben über Jahre hindurch schon die sowjetischen Machthaber besorgt – mit Afghanistan, dem Niedergang der Wirtschaft und der Aushöhlung des gesamten Systems. Wir haben ein Dokument unterschrieben, das den klinischen Tod festgestellt hat. Wenn der Notarzt kommt und sieht, daß der Kranke verstorben ist, stellt er einen Totenschein aus. Und so einen Schein haben wir ausgestellt.

Was hat Sie und die beiden anderen Staatschefs zu diesem Schritt veranlaßt?

Der Hauptgrund war, die Einheit auf eine neue, freiwillige Grundlage zu stellen. Nicht so, wie es früher im sowjetischen Imperium war. Auf der einen Seite der Souverän, auf der anderen Seite die Marionetten. Natürlich gab es auch persönliche Beweggründe: Jelzin hatte genug von Gorbatschows Führung, Krawtschuk war verpflichtet, das Ergebnis des Referendums in der Ukraine umzusetzen, das heißt, das Votum für die Unabhängigkeit zu bestätigen. Und mir kam es auch gelegen, daß Rußland die Unabhängigkeit Weißrußlands anerkannte.

Hatten Sie damals geglaubt, daß dieses Treffen mit der juristischen Auflösung der Sowjetunion enden würde?

Ehrlich gesagt, nein. Ich war immer der Meinung, daß die Sowjetunion die Fortsetzung des russischen Imperiums war. Und ein Imperium gibt niemals freiwillig Gebiete auf. Deshalb war ich davon ausgegangen, daß wir Gorbatschow allenfalls ein Ultimatum stellen würden. Doch dann war plötzlich alles ganz einfach. Und Jelzin und der Oberste Sowjet benahmen sich sehr demokratisch. Nach dem August-Putsch waren die Voraussetzungen dafür auch gut. Denn der Putsch zeigte, in welche Richtung sich alles hätte entwickeln können. Und nicht nur die ausgewiesenen Demokraten, sondern auch eine ganze Reihe anderer Menschen standen in diesem Augenblick auf der Seite der Demokraten.

Wie war die Atmosphäre während des Treffens?

Die Atmosphäre war gut. Die Gespräche verliefen ganz ruhig und sachlich. Am Ende wurde die Vereinbarung einstimmig beschlossen. Es war in diesen Tagen sehr kalt, und ich lud alle zur Jagd ein. Doch nur Krawtschuk und sein Premierminister Fokin gingen mit. Über diese Jagd gab es auch sofort Mythen. Fokin schoß nämlich ein Wildschwein. Und von Krawtschuk, der als sehr guter Schütze gilt, hieß es dann später spaßeshalber, er habe nur die Schnur getroffen, mit der das Wildschwein gefesselt war.

Was haben Sie empfunden, als Sie das Dokument unterschrieben?

Damals war ich mir der Bedeutung dieses Moments nicht bewußt. Ich dachte bloß, ich mache die Arbeit, die ich machen muß und zu der ich als Vorsitzender des Obersten Sowjets verpflichtet bin. Die Unterzeichnung internationaler Verträge gehörte nämlich zu meinen neuen Aufgaben als Vorsitzender des Obersten Sowjets. Gleichzeitig fühlte ich, daß ich diesen Vertrag unterschreiben mußte. Denn die Sowjetunion war auseinandergefallen, und es bestand die Gefahr eines weiteren unkontrollierbaren Zusammenbruchs und damit auch eines Zusammenbruchs der Atommacht. Und was die Gewalt über den roten Knopf angeht, hat sich auch nichts geändert. Die Kompetenz dafür lag bei Gorbatschow und ging eben auf Jelzin über. Allerdings bestand ich darauf, daß die Atomwaffen so schnell wie möglich von unserem Territorium verschwinden, weil ich das für gefährlich hielt.

Was haben Sie nach der Vertragsunterzeichnung gemacht? Wir haben telefoniert. Jelzin rief Busch an, um ihn zu informieren, und ich Gorbatschow. Jelzin kam schneller durch als ich. Endlich hatte ich Gorbatschow am Telefon. Er war sehr überrascht und außer sich. Wie haben Sie das nur tun können? Wie wird die Weltöffentlichkeit reagieren? Ich sagte ihm, daß Busch bereits informiert sei und das alles ganz normal aufgenommen habe. Wie erschüttert Gorbatschow wirklich war, merkte ich daran, daß er mich siezte. Wir hatten schon oft telefoniert, und jedesmal hatte er mich geduzt. Diesmal nicht. Ich war darüber so schockiert, daß ich zuerst gar nicht antworten konnte.

Am 10. Dezember 1991 wurde der Vertrag dann vom weißrussischen Parlament ratifiziert. Mit einer Gegenstimme, nämlich der von Lukaschenko, des jetzigen Präsidenten ...

Das behauptet er, und er lügt. Wie so oft, das ist bei ihm genetisch. Lukaschenko war registriert, hat aber dann nicht an der Abstimmung teilgenommen. Die einzige Gegenstimme kam von Valeri Tichinja, der bis vor kurzem Präsident des Verfassungsgerichts war.

Seit der Auflösung der Sowjetunion sind fünf Jahre vergangen. Was hat die Unabhängigkeit Weißrußland gebracht?

Die ersten zwei Jahre nach der Unabhängigkeit ging Weißrußland in Richtung Demokratisierung, Selbständigkeit und Marktwirtschaft. Seit zweieinhalb Jahren nun gehen wir in die umgekehrte Richtung, hin zu einem totalitären System. Leider ist die russische Führung, Leute wie Premierminister Viktor Tschernomyrdin, in erheblichen Maße mit schuld daran, daß Weißrußland gerade in den letzten Wochen offen einen antidemokratischen, totalitären Weg geht.

Sind Sie trotzdem der Meinung, daß die Entscheidung von damals richtig war?

Die Entscheidung war richtig. Wenn wir noch einmal an diesem Punkt stünden, würde ich den gleichen Weg wieder einschlagen.

Heute wird den Unterzeichnern des Vertrages, wie übrigens Gorbatschow auch, vielfach vorgeworfen, sie seien Verräter. Trifft Sie das?

Überhaupt nicht. In Rußland gab es außer einer Menge talentierter Leute auch immer genug Dummköpfe, die versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Wenn diese Vorwürfe also von Leuten wie dem KP-Chef Gennadi Sjuganow kommen, bin ich sogar noch stolz darauf.

Daß Lukaschenko auf dem besten Wege ist, in Weißrußland eine Diktatur zu errichten, ist eine Sache. Eine andere ist, daß er auf eine Vereinigung mit Rußland hinarbeitet. Wie sehen die Chancen dafür, daß Weißrußland seine Unabhängigkeit behält?

Ich werde alles dafür tun, daß Weißrußland ein unabhängiger Staat bleibt. So steht es in unserer Verfassung von 1994, die für mich auch weiterhin gilt. Letztlich hoffe ich, daß der Verstand siegt und nicht die Verfechter einer ideologischen Vereinigung. Doch diese Gefahr besteht natürlich. Lukaschenko wird massiv von den orthodoxen kommunistischen Kräften in Rußland unterstützt. Und diese Kräfte haben Rückhalt in der Bevölkerung, wie die Ergebnisse der Regionalwahlen zeigen.

Ist nicht die Mehrheit der weißrussischen Bevölkerung für einen Zusammenschluß mit Rußland?

Das ist alles Propaganda des Staatsapparats, genauso wie das Gerede über die mehrheitliche Unterstützung Lukaschenkos bei dem Referendum. Genau die gleichen Methoden, die Goebbels damals in Deutschland benutzt hat, wendet Lukaschenko heute bei uns an, nur mit weniger Talent. Stellen Sie sich vor: Jemand lebt wesentlich schlechter als vorher. Und es heißt dann: Der Grund dafür ist, daß wir uns von Rußland getrennt haben und unabhängig geworden sind.

Den ganzen Tag hören und sehen die Menschen hier in den Medien doch nichts anderes. Sie sind ständig dieser einseitigen Propaganda ausgesetzt. Dann reagieren sie natürlich entsprechend. Unter solchen Bedingungen kann doch überhaupt keine Abstimmung stattfinden. Wie war es denn, als die Deutschen in einem Referendum für den Anschluß des Sudentenlands und Österreichs stimmten? Was die Leute wirklich damals dachten? Solche Geschichten wiederholen sich doch immer wieder.

Welche Perspektiven sehen Sie für Weißrußland?

Im Augenblick ziemlich traurige. Wir bewegen uns zwar auf den Markt und die Demokratie zu. Aber dieser Weg wird sehr lang und beschwerlich sein. Der Westen hat uns dabei übrigens behindert. Daß der französische Staatspräsident Jaques Chirac Lukaschenko offiziell empfangen hat, hat uns sehr geschadet. So ein doppelter Maßstab ist immer schädlich.

Was machen Sie heute, und wie sehen Sie ihre persönliche Zukunft?

Heute bin ich ein Niemand. Seit dem 30. November bin ich arbeitslos, obwohl ich Mitglied des letzten gewählten und damit legitimen Parlaments bin. Was meine Zukunft angeht, da werde ich mir schon etwas einfallen lassen. Ich kann eine ganze Menge. Jetzt bin ich erst einmal im Urlaub, noch ungefähr eine Woche lang. Interview: Barbara Oertel