piwik no script img

Komm, blas mir einen, sagt das Mädchen

Wenn der irische Jesuitenpfarrer Peter McVerry in Dublins Elendsvierteln die Obdachlosen betreut, erkennt er im Leben einen Sinn. Die Jugendlichen selber müssen erst ihr Selbstbewußtsein finden  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

In dem Zimmer stinkt es erbärmlich. „Gestern war es noch viel schlimmer“, meint Peter McVerry. „Wahrscheinlich kommt das von einer toten Ratte unter den Fußbodenbrettern.“ McVerrys Büro liegt im Souterrain des jesuitischen Ordenshauses in der nördlichen Dubliner Innenstadt. Zwar ist das Viertel nur einen Steinwurf vom relativ wohlhabenden Stadtteil Drumcondra entfernt, und auch zur Einkaufsmeile rund um die O'Connell Street sind es nur ein paar Schritte, doch in diesem Teil Norddublins wechseln sich schäbige rote Backsteinhäuser mit Brachland und Ruinen ab. Dazwischen liegt der Francis-Xavier- Gemeindesaal, der mit Stahlgittern verbarrikadiert ist. Selbst die Jesuitenkirche um die Ecke in der Gardiner Street wirkt düster wie eine Festung.

McVerry, 52, hat kurze graue Haare und dichte schwarze Augenbrauen. Er stammt aus Newry in Nordirland, was ein leichter Akzent noch immer verrät. Dabei ist er schon vor mehr als 30 Jahren nach Dublin gekommen und hat am Jesuiten-College studiert. Seit 1970 ist er Pater. Eine Soutane trägt er schon lange nicht mehr. Er hat ein offenes Hemd und eine rote Windjacke an. In McVerry's Büro herrscht rege Betriebsamkeit. Jugendliche gehen ein und aus, und Ben, der graue Mischlingshund, bellt jeden Neuankömmling an. Dennoch strahlt McVerry Ruhe aus, ist zu allen freundlich und lacht viel.

„Ich bin Priester geworden aus einem naiven, sehr unschuldigen Verlangen, den Menschen zu helfen“, sagt er. „Ich dachte, das ginge am Besten, wenn ich Priester werde. Die Gründe, warum ich Priester geblieben bin, sind völlig andere. Ich bin fest davon überzeugt, daß Gott von uns ein starkes Engagement für diejenigen verlangt, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt sind.“

Das sind vor allem die obdachlosen Jugendlichen. Einige warten auf einer Bank im schmalen Flur vor seinem Büro, bis sie dran sind. McVerry ruft sie einzeln in sein Zimmer. Das Fenster ist vergittert, der Schreibtisch vollgepackt mit Papieren und einem antiken Computer, davor steht ein aufgeschlitztes braunes Kunstledersofa. Hinter dem Schreibtisch an der Wand ist mit einer Reißzwecke ein Foto befestigt, auf dem McVerry mit der irischen Präsidentin Mary Robinson zu sehen ist. Er sei ein Heiliger, sagen viele. McVerry geht es aber nicht um die Erlösung nach dem Tod, sondern um die menschenwürdige Behandlung seiner Jugendlichen.

„Angefangen hat das, als ich eine Pfarrei in der Dubliner Innenstadt hatte“, sagt er. „Mir wurde schnell klar, daß die jungen Leute große Probleme haben. Sie gehen früh von der Schule ab, manche schon mit neun oder zehn Jahren. Sie lungern auf der Straße herum, sind arbeitslos, kommen mit dem Gesetz in Konflikt und landen schließlich im Gefängnis.“

Der Niedergang der nördlichen Dubliner Innenstadt begann vor 30 Jahren. Die traditionellen Arbeitsplätze im Hafen verschwanden mit der Einführung von Containern in den sechziger Jahren. Heute liegt die Arbeitslosigkeit in diesem Viertel bei rund 80 Prozent. Für eine solide Schulbildung der Kinder mangelt es an Geld und an Interesse. Die meisten lernen Lesen und Schreiben und suchen dann eine Stelle als Hilfsarbeiter. Aber auch diese Jobs sind knapp. Das Viertel ist von Drogen überschwemmt, im Ausmaß mit New York vergleichbar. Viele Polizisten, so heißt es, stehen auf der Gehaltsliste der Drogenmafia.

„Wir boten zunächst traditionelle Leistungen an – Jugendclubs, Arbeitsbeschaffungsprogramme und so weiter“, sagt McVerry. „Im Lauf der Zeit fielen uns eine Reihe junger Leute auf, die auf der Straße lebten.“ McVerry mietete eine Wohnung an und stellte sie den Jugendlichen zur Verfügung. Inzwischen betreut McVerry vier Wohngemeinschaften. „Die Jugendlichen haben eine schlechte Meinung von sich selbst“, sagt er, „sie fühlen sich vollkommen wertlos. Wir versuchen, ihnen Selbstwertgefühl zu vermitteln. Der erste Schritt dafür ist, ihnen ein Dach über dem Kopf zu besorgen. Aber noch viel wichtiger ist es, die irische Gesellschaft und die staatlichen Dienste in die Pflicht zu nehmen. Das ist weitaus effektiver, als immer mehr Wohnungen zu beschaffen und am Ende einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, weil man nicht mehr weiß, wie man das alles finanzieren soll.“

Gegen Mittag lädt McVerry sechs Jugendliche und Ben, den Hund, in seinen verrosteten Kleinwagen und fährt zur Whitworth Road in Drumcondra. Vor einem Reihenhaus in der Nähe des Tennisclubs hält er an: Hier leben sechs Jugendliche, die bis vor kurzem obdachlos waren. Sie haben das Haus umgebaut, die Küche mit einem breiten Tresen ist im Vorderzimmer untergebracht, aus dessen Fenster man auf das Mountjoy- Gefängnis am anderen Ufer des Kanals blickt. Ein Sozialarbeiter brät gigantische Hamburger, ein junger Mann kocht Tee. Im Hinterzimmer steht ein moderner Computer mit Anschluß ans Internet. John, 18, schaut auf die Uhr. „Wir dürfen erst ab sechs Uhr abends ran“, sagt er. „Sonst wird's zu teuer.“ John spielt regelmäßig Internet-Schach mit Leuten in Deutschland, Kanada und Australien. Manchmal sitzt er bis fünf Uhr morgens am Computer.

Der Garten hinter dem Haus ist zubetoniert, hinten führen ein paar Stufen zu einem geräumigen Schuppen. Mitten im Raum steht ein Snooker-Tisch. Snooker ist eine Art Billard. Tom und Seamus haben gerade ein Spiel begonnen, als Ben auf den Tisch springt und die Kugeln durcheinanderbringt. Die beiden warten, bis der Hund sich auf dem Tisch ausgetobt hat und legen die Kugeln dann wieder zurecht.

„In dem Haus wohnen sechs junge Leute, sie haben alle ihr eigenes Zimmer“, sagt McVerry. „Sie sind etwas älter als die Jungs in den anderen Wohngemeinschaften, sie sind etwas unabhängiger.“ Das Haus stößt nicht überall auf Begeisterung, manche Leute fürchten, daß der Wert ihrer Häuser sinkt oder daß sie ausgeraubt werden, aber mit den direkten Nachbarn kommen die Jugendlichen gut zurecht. „Das ist ein ganz normales Haus in einer ganz normalen Straße“, sagt McVerry. „Das ist uns auch ganz recht, das ist ja kein Heim, und wir wollen gar nicht anders sein als die anderen Familien in der Nachbarschaft.“

Die Jugendlichen bleiben zwei oder drei Jahre, bevor sie in eine eigene Wohnung ziehen. Auch danach kommen die meisten am Anfang jeden Tag zurück, essen mit den anderen, spielen Snooker oder suchen einfach nur Gesellschaft. „Die Jungs sind viel toleranter als ich“, sagt McVerry. „Es gibt kaum Streit unter ihnen, und sie würden nie jemanden von der Tür abweisen, weil sie sich daran erinnern, daß auch sie mal draußen standen. Das Haus ist für uns ein Glücksfall. Hier ist soviel mehr Platz als in Ballymun.“

Ballymun am Nordrand Dublins – das sind sieben Wohntürme mit 15 Stockwerken, dazu ein Dutzend achtstöckiger Gebäude. 20.000 Menschen leben hier, die meisten von Sozialhilfe. In einem Block sind alleinerziehende Mütter untergebracht, in einem anderen ehemalige Psychiatrie-Patienten. Die Infrastruktur ist mieserabel, Gewalt, Kriminalität und Drogensucht sind an der Tagesordnung. Wer hier eine Wohnung vom Sozialamt zugewiesen bekommt, sieht das als Durchgangsstation und hofft, nach ein paar Jahren in eine bessere Gegend umziehen zu dürfen.

McVerry ist freiwillig hierhergezogen. Er teilt sich eine Wohnung mit vier anderen Jesuiten. „Wir wollten unter den selben Bedingungen leben, wie die Menschen, mit denen wir zu tun haben“, sagt er. Die Wohnung liegt im fünften Stock. Vor der Haustür steht ein winziger Wellblechverschlag: der Einkaufsladen. Daneben ein betonierter Spielplatz, auf dem ein paar Mädchen in braunen Schuluniformen schaukeln. Eine kommt herübergerannt. Sie ist elf, höchstens zwölf Jahre alt. „Komm, blas mir einen“, sagt sie in fast akzentfreiem Deutsch. Um sicher zu gehen, daß man sie auch verstanden hat, wiederholt sie den Satz auf englisch.

Die Jesuiten-Wohnung ist einfach eingerichtet, weder der Bücherschrank noch die Bilder an den Wänden weisen darauf hin, daß hier fünf Priester wohnen. Direkt unter ihnen liegt eine weitere Wohngemeinschaft für obdachlose Jugendliche. Deren Wohnungstür ist mit einem schweren Stahlgitter gesichert, obwohl hier wahrlich nichts zu holen ist. „Es war ein Versehen“, sagt McVerry. „Die Firma sollte das Gitter bei uns oben anbringen und hat die Stockwerke verwechselt.“ Die drei kleinen Zimmer sind mit Etagenbetten vollgestopft, bis zu neun junge Männer wohnen hier. „Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt McVerry. „Es gibt allein in diesen Blöcken 50 obdachlose junge Leute. Die meisten übernachten im Keller oder in leerstehenden Wohnungen.“

Vier Jugendliche sehen gelangweilt fern und unterhalten sich. Ein fünfter mit kurzen, schwarzen Haaren und einem dichten Bart schaut aus dem Fenster und schweigt. Mit seinen Tätowierungen sieht Darren aus wie ein Matrose. „Er wird im Gefängnis landen“, glaubt McVerry, „er ist sehr gestört.“ Am Morgen sollte er wegen eines Einbruchs vor Gericht erscheinen, aber er ist nicht hingegangen. „Jetzt suchen sie ihn per Haftbefehl“, sagt McVerry. „Sie werden wohl bald hier sein.“

Wie hält man diesen Job 365 Tage im Jahr rund um die Uhr aus? „Das ist eine erfüllende Aufgabe“, sagt McVerry und strahlt dabei zufrieden. „Ich bin zur Vaterfigur geworden und die Jugendlichen zu meinen Kindern. Ich muß mich morgens nicht fragen, warum ich überhaupt aufstehen soll. Meine Arbeit macht mir Spaß, und ich finde sie sehr wichtig und wertvoll. Jeder Tag bringt neue Probleme und Erfahrungen, und vielleicht auch neue Leute, auf deren Bedürfnisse man eingehen muß. Ich stehe morgens auf und sage mir: Hier ist ein neuer wichtiger Tag.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen