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„Ich werd' verrückt, der Miller Heiner“

Im Leben der Dora Weigelt hatte Heiner Müller seinen festen Platz. Und umgekehrt  ■ Von Alexander Friebel

Die Talente kommen fast immer aus der Provinz und werden dann in den Metropolen verbraten. (Heiner Müller)

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„Ich werd' verrückt, der Miller Heiner.“ Der Mann in der Tür lächelt. „Hallo Tante Dora!“ Wie immer kommt er unangemeldet, wie immer ganz in Schwarz. Blumen wären nicht sein Stil. „Ach, der Heiner.“ Kurze Umarmung, dann wird Wasser für den Kaffee aufgesetzt.

Der Heiner, der eigentlich Müller heißt, ist zu Besuch, dort, wo er am 9. Januar 1929 geboren wurde. In Eppendorf im Erzgebirge – fürwahr Provinz im Sächsischen –, wo die Leute an das „fünfte Buch Moses“ (Müller) glauben. Dora Weigelt ist so etwas wie eine Tante für den prominenten Besucher; eine enge Freundschaft verband Müllers Eltern mit den Weigelts.

Heiner Müller sitzt auf seinem Stammplatz am Fenster und bläst schwadenweise Rauch in die Luft „Irgendwann wünsch' ich mir mal einen Kompaß“ – bemerkt die Gastgeberin spitz – „damit ich noch die Küchentür finde.“ Müller lacht kurz, er mag den trockenen Humor dieser Frau, zu der er immer wieder in seinen Geburtsort kommt. Die frühe Kindheit, die Eltern: Dora Weigelt hat jedes Detail in ihrem Kopf behalten, gibt bereitwillig Auskunft, stundenlang. Der Gast fragt nach, erzählt wenig über sich. Das Stück Kuchen läßt er auf dem Teller liegen. „Süßes war nicht so seine Sache. Vielleicht hat er auch gedacht, er will mir nichts wegessen.“

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1933 am 31. Januar 4 Uhr früh wurde mein Vater ... aus dem Bett heraus verhaftet. Ich wachte auf, der Himmel vor dem Fenster schwarz. Lärm von Stimmen und Schritten. Nebenan wurden Bücher auf den Boden geworfen. Ich hörte die Stimme meines Vaters, heller als die fremden Stimmen. Ich stieg aus dem Bett und ging zur Tür. Durch den Türspalt sah ich, wie ein Mann meinen Vater ins Gesicht schlug. Frierend, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, lag ich im Bett, als die Tür zu meinem Zimmer aufging. In der Tür stand mein Vater, hinter ihm die Fremden, groß, in braunen Uniformen ... Ich hörte ihn leise meinen Namen rufen. Ich antwortete nicht und lag ganz still. (Heiner Müller)

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Daß die Uhr an der Wand nachgeht, stört Dora Weigelt nicht. Mit fast 90 Jahren ist Zeit eher lästig, in dem alten Lehnsessel sitzt sie und wartet, daß der Tag vergeht. Den Kopf zurückgelehnt, die Beine in eine Blümchendecke eingeschlagen. Die Kittelschürze trägt sie immer. Seit reichlich einem Jahr ist sie nicht mehr draußen gewesen, weil die Treppen ein Problem sind. Besuch ist selten, der Mann seit vielen Jahren tot, die Stieftochter auch. Eine Schwester von der Sozialstation schaut jeden Tag vorbei und hilft beim Nötigsten. Waschen, Anziehen, Essen. In ihrem Alter ist das Leben ein Geduldsspiel. Dora Weigelt hat nur noch ihre kleine Welt: den abgenutzten Sessel, das Fenster, das klemmt, und die vielen Erinnerungen.

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Kennengelernt hat sie den Heiner bei einem Spaziergang, über 60 Jahre ist das jetzt her. Er im Sportwagen, vielleicht ein Jahr alt. Zufällig kommen sie mit den Eltern des Jungen ins Gespräch. Wenig später die ersten Besuche in der Müllerschen Wohnung. Zwei kleine Räume, eine Küche, ein Schlafzimmer. Bücher überall. Die Großeltern leben in dem winzigen Flur. Heiner ist unruhig in seinem Bettchen, schreit, will auf den Arm genommen werden. Wenn die Männer zusammen sind, diskutieren sie den Abend über Politik, die Frauen reden über andere Dinge. „Politik ist ja Männersache“, wenigstens war das damals so.

Schnell hat Kurt Müller, Heiners Vater, Doras Ehemann Albert überredet, in die neu gegründete Sozialistische Arbeiterpartei einzutreten. In Eppendorf hat sie eine ihrer stärksten Ortsgruppen. Als die Radios von Hitlers Machtübernahme berichten, wird ein Protestmarsch durch den Ort organisiert. „Nieder mit Hitler, denn Hitler ist Krieg!“ steht auf dem Plakat, das ein SAP-Funktionär an der Spitze des Zuges trägt. Am nächsten Morgen werden er und andere Demonstranten verhaftet und in eine Turnhalle gebracht. Jetzt ist es ein KZ. Plaue bei Flöha. Unter den Verhafteten sind auch die Freunde Albert und Kurt.

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Später haben wir meinen Vater im KZ besucht ... Wir mußten durch das Drahtgittertor mit meinem Vater reden, er sah sehr schmal und klein aus. Ich habe ihm Bilder gezeigt, die ich gemalt und gezeichnet hatte, und Zigarettenbilder. Meine Mutter kam gar nicht dazu, mit ihm zu sprechen. Sie hat mir erzählt, daß ich danach im Schlaf geredet habe: „Spring doch über den Zaun!“ Ich konnte nicht verstehen, daß er drin bleibt. (Heiner Müller)

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Heiner Müller, vier Jahre, allein mit der Mutter. Vom gegenüberliegenden Haus wird die Wohnung mit einer Kamera überwacht, jeder kann sie sehen. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP hat es Dora Weigelt untersagt, weiterhin mit der Familie Müller zu verkehren. Dora wehrt sich, „schließlich halten Freunde auch in der Not zusammen“. Übers Feld schleicht sie sich in die Wohnung, bringt Eßbares für die Freundin und ihr Kind. Heiner, ein kleiner, blasser Junge, „vielleicht ein wenig schwach auf der Brust“, freut sich über jeden Besuch. Und über Kinderlieder, vor allem, wenn Tante Dora „Hänschen klein“ vorsingt und ihn dabei auf den Schoß nimmt. Um den Kleinen zu testen, bringt sie einen kleinen Fehler in den Text. Heiner bemerkt ihn jedes Mal. „Der Heiner hat einen hellen Geist gehabt. Fragen konnte er eher beantworten als seine Mutter.“

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Ein paar Tage sind vergangen, seitdem sie Adalbert Weigelt und Kurt Müller ins Lager gebracht haben. Dora Weigelt sitzt im Bus, fährt von Chemnitz nach Hause. An einer Station steigt ein Mann zu, mit Tränen in den Augen. Es ist ihr Mann, Albert. Mit zitternder Stimme erzählt er vom Lager. „Mir tut der Kurt so leid. Wenn du wüßtest, wie sie den Kurt verdreschen.“ Damals, im Bus, hat sie ihren Mann zum ersten Mal weinen sehen, aus Angst um den besten Freund. Ein paar Jahre später wird Albert Weigelt, rückblickend auf die Zeit im KZ, in die Eppendorfer Dorfchronik schreiben: „Die Folterkammer des Lagers Plaue war ein relativ kleines Zimmer, etwa zehn Stufen hoch und von der Bühne aus zu erreichen. Die Wände des Zimmers waren voll Blut gespritzt durch die Folterungen...“

Nach der Entlassung Albert Weigelts hat die Tortur kein Ende. Er ist arbeitslos, jede zweite Stunde muß er sich auf dem Rathaus melden. Dora erledigt den Schreibkram befreundeter Bauern, bekommt Eier, Milch und Wurst dafür. „Es hat gereicht, um durchzukommen.“ An das einfache Leben war und ist man im Hause Weigelt bis heute gewöhnt. Als Kind Knochen ausgekocht, heute 400 Mark Rente im Monat. Albert Weigelt hat als Junge bis in den Winter barfuß laufen müssen, weil der Vater kein Geld hatte für neue Sohlen. Die Füße hat er sich in frischen Pferdeäpfeln gewärmt – solange, bis auch die kalt waren.

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Nach der Verhaftung meines Vaters hatte meine Mutter kein Geld, das Essen war knapp, es gab ein Angebot von diesem Fabrikanten, ich könnte dort jeden Tag mitessen. Natürlich hatte ich Hunger, aber gleichzeitig war es eine ungeheure Erniedrigung ..., sich durchfüttern zu lassen. (Heiner Müller)

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Jochen, der Fabrikantensohn, ist der einzige Freund, den Heiner noch hat. Meist sitzen sie im Sandkasten, bauen Burgen. Er sei jetzt der Sohn eines Verbrechers, sagen ehemalige Kameraden, Beamtensöhne. Die Eltern des Nachbarsjungen meinen es besser mit dem Kleinen, laden ihn zum Essen ein. Der sträubt sich – „Mama, ich will da nicht hin“ – doch Mama sagt, es müsse sein. Immerhin war es eine warme Mahlzeit am Tag. Unter der Bedingung, daß er sich nicht mehr in seinem Wohnkreis blicken läßt, wird Vater Kurt im Winter 1934 aus dem KZ entlassen.

Der vierjährige Sohn fühlt sich von der Welt verlassen, als er von Eppendorf fortgehen muß. Später wird er schreiben, daß dies „eine wichtige Voraussetzung für vieles Spätere“ war. Der Kontakt zu den Weigelts bricht für Jahre ab, ein paar Briefe, mehr nicht. Später schaut Ella Müller wieder regelmäßig in der Heimat vorbei. Einmal bekommt Dora eine Strickjacke von ihr geschenkt. Ein halbes Jahrhundert ist das gute Stück jetzt alt. An den Ärmeln verfilzt, und doch trägt Dora Weigelt sie jeden Tag über der geblümten Kittelschürze.

Die Alte streift sich das zerzauste Haar zurecht. Wenn sie sich in Schwung geredet hat, funkeln die blauen Augen hinter den dunklen Brauen fast so wie früher. Dann liegen auch die Hände nicht so müde im Schoß. Der trockene Humor ist mit der Zeit ein wenig auf der Strecke geblieben, „worüber soll ich auch noch groß lachen“.

Aus dem massiven Schrank kramt sie alte Zeitungsausschnitte hervor. Alle erzählen sie davon, daß Heiner Müller ein großer Mensch war. Was dort geschrieben steht, und was sie im Fernsehen gesehen hat über ihn, ist ihr fremd. Seine Stücke, sein Theater. Dora Weigelt kannte den Heiner wie er durch die Gegend gekrabbelt ist, zu klein für sein Alter, auf allen Vieren. Den Mann, der ihr zu DDR-Zeiten 100 Mark West in die Hand gedrückt hat. Jetzt ist er tot. Ein Jahr schon.

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Der letzte Besuch Heiner Müllers in Eppendorf – wie immer unangemeldet, wie immer Kaffee und Kuchen. „Heiner, jedes Mal hast denselben zerlumpten Pullover an. Kannst dir wohl keinen neuen leisten?“ Heiner Müller lächelte auf seine verschmitzte Art. „Könnte ich, will ich aber nicht.“ Die Kollegen, die mit am Tisch sitzen, feixen auch. Immer wieder muß Dora Weigelt an diesen Nachmittag denken, Zeit genug hat sie ja dafür. „Warum die zu dem Heiner Mickymaus gesagt haben, weiß ich bis heute nicht.“ Schulterzucken. „Vielleicht, weil der Miller immer so blaß war und schmal.“

Vielleicht auch der Ohren wegen.

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