: Zajedno ehrt seinen ersten Märtyrer
Rund 70.000 Menschen beteiligten sich in Belgrad trotz eisiger Kälte an der Beerdigung des von Milošević-Anhängern erschlagenen Universitätsdozenten Pedrag Starcević ■ Aus Belgrad Georg Baltissen
Keine Trillerpfeife, keine Buhrufe, kein lautes Tuten. Zajedno schweigt. Auf dem Neuen Friedhof in Belgrad erweisen rund 70.000 Menschen ihrem Freund, Kollegen und Mitstreiter, Pedrag Starcević, einem Universitätsdozenten, die letzte Ehre. Der 37jährige wurde am Heiligabend auf einer Savebrücke von Anhängern des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević so schwer zusammengeschlagen, daß er am Tag darauf im Krankenhaus verstarb.
Zweistelligen Minustemperaturen und einsetzendem Schneefall zum Trotz haben sich Abertausende vor der Leichenhalle eingefunden. Der Sarg steht in Kammer vier, viele Anwesende zünden Kerzen an. Vesna Pesić und Zoran Djindjić sind als erste eingetroffen. Später folgt das Ehepaar Drašković. Die Zajedno-Führer, dichtgedrängt unter Zehntausenden von Trauergästen, kondolieren dem Vater des Verstorbenen und tragen dann ihren Kranz in die Leichenhalle. Alle schweigen.
In Kammer vier der Leichenhalle setzt der Totengesang ein. Drei Priester der serbisch-orthodoxen Kirche sind anwesend. Nach dem Gesang tritt einer von ihnen vor die Menge und geißelt das Regime mit harten Worten. Pedrag Starcević sei der erste Märtyrer von Zajedno und ein Opfer der kommunistischen Diktatur.
Die Kränze und Blumengebinde werden herausgetragen. Der Leichenwagen hat sich langsam und vorsichtig einen Weg durch die Menge gebahnt. Unter der feierlichen Musik einer Blaskapelle wird der Sarg in den Wagen geladen und über den riesigen Friedhof gefahren. Der Schneefall ist heftiger geworden. Schweigend zieht eine vieltausendköpfige Menge hinter dem Wagen her.
Die Grabstätte liegt an einem Hang. Etwa 30 Meter vom Grab entfernt stoppt der Wagen auf einem breiten Weg. Friedhofsgärtner tragen den Sarg zum ausgehobenen Grabloch, das von Kameramännern und Fotografen regelrecht belagert ist. Drei Priester beginnen ihren Totengesang. Unter getragener Musik der Blaskapelle wird der Sarg ins Grab gelassen.
Während alle anderen Zajedno- Führer schweigend der Beisetzung beiwohnen, ergreift die Frau von Vuk Drašković das Wort. Sie appelliert zuerst auf serbokroatisch und dann auf englisch an den Westen, den Charakter des Regimes zu erkennen und die demokratische Opposition nicht alleine zu lassen. Tausende von Menschen haben sich am Hügel um das Grab versammelt, Tausende ziehen immer noch heran.
Die Menge verläßt den Friedhof nach der Beisetzung unter heftigem Schneefall so schweigend wie sie ihn betreten hat. Auf der Straße vor dem Friedhof aber formiert sich eine spontane Demonstration. Zu Zehntausenden ziehen sie die Straße hinunter und blockieren den Verkehr. Die Trillerpfeifen werden gezückt, und der Lärmpegel erreicht Normalstand.
Einen Kilometer weiter am Ende der Friedhofsstraße steht die alarmierte Miliz. Die Demonstranten weichen auf die Bürgersteige aus, wohlbewacht von Hunderten von schwerbewaffneten Milizsoldaten, die sich inzwischen in Linie am Straßenrand postiert haben. „Slobo uzica“, Slobodan hau ab, lautet ihr Slogan, mit dem sie in Richtung Terazije ziehen. Niemand kann sie aufhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen