: Hegel wird gezwickt und gezwackt
■ Ausgiebig ausgemaltes Durcheinander: Das Wilhelm-Busch-Museum Hannover zeigt Zeichnungen von Rodolphe Töpffer, einem frühen Meister der Karikatur. Eine Mischung aus bildungsbürgerlicher Satire und ruppigem Slapstick-Humor
Schuld ist ein Augenleiden: Weil seine Farbenblindheit um das Jahr 1820 so weit fortgeschritten ist, daß er bloß hell und dunkel noch unterscheiden kann, muß Rodolphe Töpffer, Privatlehrer in Genf und passionierter Freizeitmaler, auf seine geliebten Aquarelltuschereien verzichten.
Zum Ausgleich verlegt er sich auf das Zeichnen von Karikaturenfolgen: „Komische Bilderromane“ in der Tradition William Hogarths, in denen meist männliche Laster und Torheiten – Geckentum, Egoismus, die Borniertheit des Bürokraten- und Akademikerstandes – parodiert wird, abschreckungshalber, als Quelle notwendigen Unglücks dargestellt werden.
Doch anders als der Moralist Hogarth beweist Töpffer dabei durchaus Humor. Seine Strafen für sittliche Abweichung sind keine Tragödien, die in Gosse, Armenhaus oder am Galgen enden. Bei ihm rächt sich rücksichtsloses Treiben durch schicksalhafte, zusehends bizarre Verwicklungen und Kettenreaktionen: Eine kleine Rempelei stürzt eine ganze Tanzgesellschaft ins Chaos, ein schlecht behandelter Hund auf einem Telegraphenmast provoziert eine Staatskrise, ein Heiratsschwindler auf der Flucht wird von einem Wal verschluckt und endet tiefgefroren am Nordpol.
Über dieser Lust am ausgiebig ausgemalten, komischen Durcheinander wird die sonst genreübliche Allegorie der Figuren fallengelassen. Statt dessen erkennt man bisweilen ein paar Vertreter der zeitgenössischen Geisteselite: So, als Familienvater Crepin den passenden Hauslehrer für seine elf Söhne sucht und prompt an den ollen G.W.F. Hegel gerät.
Natürlich ist dem pädagogischen Experiment wenig Erfolg beschieden. Mit systemphilosophierenden Nervensägen machen die Knaben kurzen Prozeß. Hegel wird gezwickt und gezwackt und schließlich einem Rudel bissiger Hofhunde zum Fraß vorgeworfen. Und das ist erst der Anfang...
Diese Mischung aus bildungsbürgerlicher Satire und recht ruppigem Slapstick-Humor ist den Zeitgenossen zweifellos unbekannt. Doch sogar Goethe habe sich „angetan“ gezeigt, liest man in Eckermanns Tagebüchern. Obwohl er, „um keine Ideenverstopfung zu riskieren“, immer nur wenige Zeichnungen auf einmal betrachten könne.
Tatsächlich gibt es eine ganze Menge gleichzeitig zu sehen in den „Komischen Bilderromanen“. In Tempo und Rhythmus ähneln sie den Bilderbögen Wilhelm Buschs. Sie nehmen aber auch zahlreiche Kunstgriffe vorweg, die man gemeinhin als Erfindung der Comicstrips ansieht. Ohnehin mit schwungvoller Feder am Werk, ersetzt Töpffer die Geschlossenheit der einzelnen Bilder zusehends durch die Dynamik zwischen den Darstellungen. Mal montiert er verschiedene Handlungen parallel zueinander, mal läßt er die Zeichnungen zu bloßen Bewegungsfragmenten schrumpfen; erst werden sie immer weiter zusammen, schließlich ganz übereinander gerückt.
So gerät die découpage, die Ordnung und Komposition der einzelnen Zeichnungen im Seitenbild, in Töpffers Geschichten zum bedeutungstragenden ästhetischen Schema. Ein durchaus modernistischer Kunstgriff, den man in ähnlicher Form – gut achtzig Jahre später – erst in George Herrimans „Krazy Kat“-Comics wiederfindet.
Töpffer ist sich der Originalität dieser Ästhetik ganz und gar bewußt. Eine „ganz neue Darstellungsform“ habe er da erfunden, resümiert der Künstler kurz vor seinem Tod im Jahr 1846 nicht ganz unbescheiden.
Seine Programmschrift „Über die Physiognomie“ kann man jedenfalls als veritablen ersten Versuch lesen, das Erzählen in Bildern nicht mehr bloß aus dem klassischen Genre der Illustration abzuleiten, sondern Bild und Text in ihren unterschiedlichen Ausdrucksqualitäten aneinander zur Geltung zu bringen.
Grund genug, ihn endlich als „Vater der Comics“ anzuerkennen, fordern jetzt französische Comic-Forscher. Sie ärgern sich vor allem darüber, daß der letztes Jahr gefeierte „hundertste Geburtstag“ der Comics als deren Ursprung die amerikanische Boulevardpresse verewigt – und die „große europäische Tradition“ ignoriert, die Yellow Kid, Little Nemo und Krazy Kat erst möglich gemacht habe. Mit Symposien, Aufsatzsammlungen und Ausstellungen zum Töpfferschen Werk wollen sie beweisen: die Comics sind einhundertundsiebzig Jahre alt, und ihr Erfinder ist ein Franzose. Oder, na ja, zumindest ein frankophoner Schweizer eben.
Sei's drum: Diesem noch vergleichsweise kuriosen Kulturchauvinismus haben wir jetzt eine hübsche Neuausgabe der „Komischen Bilderromane“ zu verdanken (für die sich bald auch ein deutscher Verlag finden sollte) sowie eine sehenswerte, kleine Ausstellung, die noch bis Januar im Wilhelm- Busch-Museum in Hannover gastiert und neben den originalen Autographien Töpffers auch allerlei Kleinode aus ästhetischem Umfeld und Wirkungsgeschichte zeigt. Jens Balzer
Rodolphe Töpffer: „Aventures Graphiques“. Bis zum 19.1. 1997 im Wilhelm-Busch-Museum, Hannover; 13.2. bis 20.4. 1997 im Centre Culturel Suisse, Paris
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