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■ Der Bundeskanzler und seine Ansprache zum JahresauftaktEinige ungemütliche Ankündigungen

Die Rede Helmut Kohls thematisierte nichts von dem, was wirklich wichtig wäre zu erörtern in einem der reichsten Industrieländer der Welt. Nichts davon, daß Millionen unterhalb der Armutsgrenze leben und wahrlich nichts zu lachen haben; keine Silbe über das Gefühl einer fehlenden Perspektive, das Millionen von Arbeitnehmern haben müssen, wenn nur ein Teil jener Politik wahr wird, die Kohl & Co. umzusetzen sich vorgenommen haben.

Darüber hat sich der Kanzler ausgeschwiegen. Eingebettet zwischen „Tagesschau“ und „Musikantenstadl“ richtete sich seine Ansprache an diejenigen, die kaum etwas zu befürchten haben. „King Kohl“ (Time Magazine) hatte für sie eine frohe Botschaft: „Wir Deutschen können nicht einfach weitermachen wie bisher.“ Als ob das die Arrivierten nicht gerne hören – die schon lange einen politischen Kurs fordern, von dem sie sicher sein können, ihn nicht erleiden zu müssen. Sie glauben, was der Kanzler sagt: „Der wirtschaftliche Aufschwung muß beschleunigt werden, damit Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden können.“

Eine glatte Lüge, wie alle Statistiken belegen. Um die schert sich Kohl bekanntlich nicht. So setzt er noch hinzu: „Der Sozialstaat muß umgebaut werden.“ Als ob der nicht längst durch die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitslosenzahlen zerstört ist – die Operation Gesundheitsreform hat dies eindrücklich bewiesen. Auch der Satz, „soziale Marktwirtschaft eröffnet Freiräume für den einzelnen“, kommt einer Unverschämtheit gleich: Er bedeutet, die Zukunftslosigkeit vieler Arbeitnehmer ideologisch noch zu veredeln.

Als Rezeptur gab es gemütliche Ankündigungen, die sich ungemütlich auswirken werden: die Steuerreform beispielsweise, die nichts von den Pfründen der Reichen antasten wird. Eine Rede, die genau zum Denken der christliberalen Wählerschaft paßt: Soziale Leistungen werden zuviel bezahlt, Faulheit darf nicht belohnt werden, die soziale Hängematte muß leistungsorientierter werden – eine Rhetorik der Heuchelei und des stillen Einvernehmens mit der eigenen Wählerschaft.

Von diesem Bundeskanzler kann nichts anderes erwartet werden. Insofern ist solcherlei Kritik haltlos. Leider aber hat die SPD zu ihm kaum noch etwas zu sagen. Sie wirkt wie befangen in ihrer eigenen Sparideologie, wie ein Komplize des Republikchefs. Helmut Kohl – eine traurige Gewohnheit? Eine Witzfigur? Was für ein trauriger Irrtum. Jan Feddersen

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