Wand und Boden: Schnee für morgen
■ Kunst in Berlin 1996: ein Nachklapp
Plötzlich hängt man zwischen den Zeiten fest. Seit vier Tagen schon ist das neue Jahr eine vollendete Tatsache und 1996 ebenso unabänderlich vergangen. Nichts läßt sich mehr ungeschehen machen, was vor einem Jahr vielleicht noch herbeigesehnt wurde (aus dem Hamburger Bahnhof ist ein Museum für die eben erst abgelaufene Gegenwart geworden).
Darüber geraten die Menschen in Sorge: Die einen blicken schon von Nikolaus an ängstlich zurück; die anderen tun's etwas später und nennen es dann frech Vorblick auf 1997, was sich über das vergangene Jahr angesammelt hat. So findet sich in der zitty gerade seitenweise Schnee für morgen.
Auch der Galerist Harry Lybke ist unter den „Köpfen für '97“, weil er „es bis in die Harald- Schmidt-Show geschafft hat“ – mit einer Werbeanzeige für n-tv, auf der unter seinem Konterfei nur steht: „Ich weiß.“ An der Kunst, die er in seiner Galerie Eigen + Art ausstellt, möchte man den agilen Leipziger auch gar nicht immer messen. Zu kryptisch waren etwa die Vernichtungs-Exerzitien von Birgit Brenner, die sich im Januar ihr Ego unter Stahlplatten erdrückt imaginierte, um dann auf eine Kerze zu schreiben: „Alle Menschen müssen sterben und vielleicht auch ich.“ Zum Jahresende las sich das Programm der „Grenzerlebnisse“ von Yana Milev am gleichen Ort sehr ähnlich. So schaute man auf Fotos von Menschenhaut, in die ein Label namens „AOBBME“ eingebrannt war. Und wunderte sich.
„Gelb schlief und schlief, sein Gleichmut war nicht zu erschüttern“, hob im Februar eine Stimme aus dem Off zu erzählen an. „Mascha und Gelb“ hieß die wenig wahrscheinliche Geschichte, für die Margarete Hahner Maler- und Massenmedium, Tafelbild und TV-Monitor verbündete. Wandfüllend hatte die Künstlerin ihre Bilder von Picknicks, Zügen, Zellenfenstern, ihre Seestücke und Caspar-David-Friedrich-Adaptionen in die Galerie Zwinger gehängt. Auf dem Monitor kamen diese Bilder in Bewegung: Realismus in illusionistischer Höchstform. Schließlich schaukelte die Kamera in den Wellen des Seestücks und endete beim berühmten weißen Quadrat.
Das sublimste aller Bilder malte der Franzose Jean-Michel Othoniel in der Galerie Arndt & Partner. Seine monochrom umbrabraune „Wishing Wall“ war aus Streichholzreibegrund geschöpft. Das Publikum durfte dabei mit frei herumliegenden Streichhölzern an der Wand zündeln und einen Wunsch aussprechen, so daß sich auf der Fläche bald schon allerlei graue Ränder und schwefelige Schrammen abgezeichnet hatten – interaktive Arte povera.
Für Pat Binder war zwei Monate später in der ifa-Galerie die Biografie das Medium: Seit zwei Jahren lebt die argentinische Künstlerin, deren deutschstämmige Großeltern während des Ersten Weltkriegs aus Rumänien nach Südamerika emigrierten, in Zürich. Daraus resultierte ihre Arbeit „Zapping“, die aus fein mit Fernsehstills bedruckten Glasplatten bestand, hinter denen Binder als liegender Akt durchschimmerte – als wäre sie in Bildern zu Hause.
Zur gleichen Zeit galt Thomas Hirschhorns „Virus-Ausstellung“ bei Arndt & Partner dem berüchtigten genetischen Material, das sich in geeignete Wirtszellen einnistet, die es auf die Produktion immer neuer Kopien seiner selbst umprogrammiert. Läuft die Sache, dann läuft sie auch schon aus dem Ruder. Hirschhorn suchte einzudämmen. Er klassifizierte, selektierte, kombinierte und vor allem isolierte sein Virusmaterial, indem er es vorsorglich in durchsichtige Plastikfolie verpackte. Dennoch artete die Präsentation der Pappstücke, die er mit Kugelschreiberkritzeleien und Fotomontagen verzierte, erkenntnisfördernd in ein wildwucherndes Environment des vironalen Exzesses aus.
Im Juni überführte Gabriele Konsor die Farbigkeit der 60er Jahre, die psychedelische Ornamentik der 70er und das aus den 80ern stammende feministische Konzept weiblicher Dekorationswut in die Totalinstallation der 90er Jahre. Das Ergebnis ihres decade blending nannte sie „AURACORAMA der Wohnlust“. Die Galerie Unwahr lud zur Probe in die 2-Zimmer-Musterwohnung ein. AURACOR, das strahlende Herzstück der Konsorschen Ambient art schmückte Kissen, Steh- und Nachttischlampen, Teller und Platzdeckchen. Hinter dem Doppelbett im Schlafzimmer erblühte eine kostbare Wunde mit Schorfspuren. Auf das Doppelbett hingestreckt, hätte man Bossa Nova hören mögen.
Die Grenze zwischen Gebrauchs- und Kunstobjekt hielt auch Sarah Lucas unklar. Ungehobelt, rauh, billig, aber mit bildhauerischer Raffinesse setzt sie auf „die Wahrheit des Materials“. Das zeigte sie im November bei Contemporary Fine Arts mit einem voll funktionsfähigen Water Closet, das sie aus London herbeigeschafft hatte. Das WC harmonierte vorzüglich mit einem angekokelten Ohrensessel im Nebenraum, dessen verbrannte Hinterbeine sie durch Zigarettenschachteln ersetzte. Die Sitzfläche des Sessels nahm ein Sturzhelm in Rennfahrerdesign ein, den sie aus Zigaretten zusammengeleimt hatte: „Is Suicide Genetic?“ Ein Schwarzweißfoto („Fight Fire with Fire“) zeigte die Künstlerin als couragierte Raucherin. Heutzutage weiß Gott eine Kunst.
Weiß Gott keine Kunst: Fotografie in Berlin. Dennis del Favero übte sich bei Andreas Weiss in politischer Betroffenheit. Seine blau eingefärbte Körperfotografie wollte eine Anklage gegen die Vergewaltigung bosnisch-muslimischer Frauen sein. Er gab aber ausschließlich den Vergewaltigern das Wort. So lief es auf ein peinliches, klammheimliches Einverständnis hinaus.
Bei Tammen & Busch stimmte zuletzt Herlinde Koelbl in einem umfangreichen Fotoprojekt das nackte Loblied auf ebenso umfangreiche Frauen an. Leider fiel ihr zu den „Starken Frauen“ kein einziges starkes Bild ein. Wäre von Alvenslebens „Sonnenschein“ nicht so bekannt, hätte sie sich auch noch über dieses Motiv hergemacht ... Brigitte Werneburg/
Harald Fricke
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