Aus dem Amt für Gehirnpfürze

■ Stefan Moscov überzeugte mit ungewöhnlicher Tschechow-Inszenierung

„Abwarten und Tee trinken“ gilt zwar als chinesische Weisheit, aber soweit ist Rußland von China schließlich nicht entfernt. Die Fähigkeit zu warten oder die Unfähigkeit zu handeln, je nachdem, scheint geradezu eine Auszeichnung der russischen Seele zu sein, jedenfalls, wenn man sie nach Tschechow analysiert. So ist es nur konsequent, daß Stefan Moscov seine Inszenierung Das Haus Nr. 13 mit drei Gestalten an der Bühnenrampe beginnen und enden läßt, die in ihren Teetassen rühren. Und rühren. Und rühren. Noch Zucker?

Der Krieg hat die Leidenschaften der Russen ermüdet, schrieb Tschechow 1888, doch Ermüdbarkeit, fügte der studierte Arzt hinzu, äußere sich nicht allein im Gefühl der Langeweile: „Müde Menschen verlieren nicht die Fähigkeit, sich in höchstem Maße zu erregen, aber nur für sehr kurz, wobei nach jeder Erregung eine noch größere Apathie einsetzt.“ Die meisten Tschechow-Inszenierungen bringen letztere auf die Bühne. Moscov setzt vorher ein: Seine Collage von Tschechow-Szenen ist eine einzige Reihung höchst erregter Zustände, eine Kette von Euphorie, Hysterie und Hyperventilation.

Der Ansatz des bulgarischen Regisseurs ist unserer Rezeptionsgewohnheit des russischen Dramatikers geradezu entgegengesetzt. „Ich bin ein Lebewesen und will leben. Das ist doch keine Komödie, sondern eine Tragödie“, versucht sich selbst eine der Figuren gegen Moscovs Zugang zu wehren. Wird gemeinhin die Tragik des verfehlten Lebens in Szene gesetzt, dessen Komik sich erst entwickelt, wenn die russischen Provinz- oder Intellektuellen-Seelen im Selbstmitleid ertrinken, gibt Moscov sie von Anfang an gezielt der Lächerlichkeit preis. Nicht Tragödie, nicht Komödie, sondern Slapstick hat er inszeniert.

„Zwei Minuten mit zwei nervösen Menschen“ heißt in etwa eine der vielen Szenen, in der Samuel Fintzi und Hans-Jörg Frey nichts machen, als lustvoll Grimassen zu schneiden. In einer anderen, die sich an Tschechows Aufzeichnungen über den „Bürochef des Amts für Gehirnpfürze“ orientieren muß, kämpfen sie mit einem erschütternden Wortschwall gegen tausend Zettel, zwei Stühle und ein übermächtiges Leben. Clownesk, pantomimisch bis akrobatisch sind die Auftritte. Nicht alle Gags sind neu, aber fast alle wirkungsvoll. Zeitlupe, Zeitraffer oder comic-hafte „zwei Wochen später“-Einwürfe machen Episoden lächerlich, zwei bellende, kopulierende Perücken auf den weißen Jahrhundertwendekleidern haben gar Trash-Qualität. Und die von Fintzi und Victoria Trauttmansdorff gespielte Erzählung einer Schlittenfahrt ist geradezu mitreißend.

Mit drei Komödianten im besten Sinne des Wortes und einer bis auf vier Säulen leeren Bühne ist Moscov eine überzeugende, ungewöhnliche Inszenierung gelungen. Technisch ungewöhnlich für ein Staatstheater und atmosphärisch ungewöhnlich für Tschechow. Die Balance zwischen Tragik und Komödie ist auch mit den Clowns auf der Bühne geglückt. Schließlich ist nichts tragischer als der albern angestrengte Versuch des Menschen, glücklich zu sein. Christiane Kühl