: Widersprüche um ein Fenster und kein Motiv
■ Lübecker Prozeß: Ob Brandstifter eindringen konnten, bleibt weiterhin unklar
Auch der immerhin schon achtundzwanzigste Verhandlungstag im Lübecker Brandanschlag, bei dem vor knapp einem Jahr zehn Flüchtlinge ums Leben kamen, dürfte Richter Rolf Wilken bei der Wahrheitsfindung nicht viel weitergeholfen haben: Wie schon häufig seit Prozeßbeginn sah sich der Vorsitzende der Jugendstrafkammer des Lübecker Landgerichts mit Aussagen konfrontiert, die sich – zumindest in wichtigen Teilen – diametral widersprechen.
Trotz dieser Ungereimtheiten konnten gestern allerdings die Verteidigung und ihr Mandant Safwan Eid mehr Punkte sammeln als die Staatsanwaltschaft, die den Libanesen für schuldig hält, das Feuer in dem Flüchtlingsheim an der Lübecker Hafenstraße gelegt zu haben. Zur Klärung stand dabei die Frage, ob das Fenster im hölzernen Vorbau des Hauses von außen geöffnet werden konnte, so daß ein Eindringen in das Flüchtlingsheim und damit ein Brandanschlag durch Nicht-HausbewohnerInnen möglich war.
Der zehnjährige Syrer Ahed Alias, der mit seiner Familie sechs Jahre im Dachgeschoß des Hauses gelebt hatte, berichtete dem Gericht, daß das Fenster sich „sehr leicht“ von außen öffnen ließ. Sei etwa beim Fußballspielen mit Freunden die Lederkugel gegen den Fensterrahmen geflogen, sei das Fenster regelmäßig aufgesprungen. Der Junge, der vom Angeklagten aus den Flammen gerettet worden war, bestätigte damit eine Reihe von Zeugenaussagen ehemaliger HausbewohnerInnen, die zu Protokoll gegeben hatten, das Fenster habe sich ohne Mühe von außen öffnen lassen.
Dagegen gab der ehemalige Hausbewohner Thalil El-Omari zu Protokoll, das Fenster sei stets verschlossen gewesen und habe sich keineswegs von außen öffnen lassen. Doch diese Aussage, so wurde auf Nachfrage der Verteidigerinnen klar, entspringt nicht der Beobachtung des Vaters der Nebenklägerfamilie El-Omari, sondern allein seiner Logik.
So mußte der 50jährige Libanese – der durch das Feuer einen Sohn verlor – einräumen, daß er nie versucht habe, das Fenster zu öffnen, da sich an diesem „keine Griffe“ befunden hätten. Wenn es aber defekt gewesen wäre, hätte der Heimleiter es jedoch seiner Ansicht nach sofort reparieren lassen. Denn in dem vom Diakonischen Werk geführten Haus seien Schäden, so erklärte El-Omari, stets umgehend behoben worden.
Einig waren sich die beiden Zeugen dagegen in einem anderen Punkt: Das Zusammenleben in dem Haus sei überwiegend harmonisch gewesen. Während der junge Syrer aussagte, es habe „nicht viel Streit“ unter den BewohnerInnen gegeben, ergänzte Thalid El-Omari, daß es unter den Erwachsenen nur wenige ausgesprochene Freundschaften gegeben habe. Das Zusammenleben in der Flüchtlingsunterkunft sei dennoch friedlich gewesen sei: „Wir sind freundlich miteinander umgegangen.“
Die Hypothese der Staatsanwaltschaft, wonach hausinterne Streitigkeiten ein Motiv für Safwan Eid gewesen sein könnten, den ihm angelasteten Brand gelegt zu haben, fand somit auch am achtundzwanzigstensten Prozeßtag keine Bestätigung.
Marco Carini
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen