: Der Briefeschreiber
Seit je saß er dort und bot launig seine Dienste an. Dann kamen die Wächter der Revolution und sperrten ihn in den großen Palast. Eine Erzählung ■ von M. T. Sharif
Für Mansoureh
Ein Derwisch auf der Durchreise, der, um einen Laib barbari zu erwerben, in der Stadt haltmachte, sah Haji, den Briefeschreiber, und verkündete: „Denkt an meine Worte. Heute schreibt dieser Mann Karten und Papiere. Eines Tages jedoch wird er in einem Haus mit sieben Säulen wohnen. Und sieben Konkubinen werden ihm zu Diensten sein. Und sieben Diener werden jeden seiner Wünsche erfüllen.“ Nachdem er das gesagt hatte, raffte er sein Bündel zusammen und verschwand.
Gerüchte verbreiten sich in Rostam Abbad schneller als Läuse auf den Hoden eines Esels; die Worte des Derwischs waren eine Sensation. In den Kaffeehäusern diskutierten die verschiedensten Leute beim Teetrinken dieses Thema leidenschaftlich. Alle sprachen über das einzige reiche Haus, das sie kannten: das Sommerhaus des Schahs, den Schattenpalast. Obwohl sich keiner jemals weit genug genähert hatte, um einen heimlichen Blick durch das Tor zu werfen, versicherten besser Informierte, daß es an diesem schattigen Ort in den Bergen sehr viele Zimmer gebe, sehr viele Säulen, sehr viele mit Spiegeln ausgestattete darbars.
Aber hier endete die Einigkeit auch schon, und Streit begann. Einige sagten: „Wir wissen doch, daß Haji Augen hat groß wie Radkappen. Ganz dafür gemacht, um Reichtümer zu bestaunen.“ Andere fragten: „Ihr meint also im Ernst, daß er einmal ein Haus wie das des Königs bewohnen wird?“ Der lokale Experte sprach: „Haji ist so dumm, daß er einen Maulesel nicht von einem Mullah unterscheiden kann.“ Die Gerüchteküche kochte weiter, und Haji's Zukunft blieb ein beliebtes Gesprächsthema.
Haji ignorierte das plötzliche Interesse in seinem Schicksal und brummelte nur: „Ein Geschäftsmann hat keine Zeit für dummes Gerede.“ Dann sah er sich um und erschreckte Passanten mit seinem lauten Geschrei: „Los, los. Bittschreiben. Bürgschaften. Rechnungen. Bei mir werden sie geschrieben.“
Seine berufliche Ausrüstung bestand aus ein paar Stiften und Federn, einigen Blättern Papier, dem Koran und kolorierten Bildern des Propheten. Während er auf diese Bilder zeigte, das Heilige Buch rezitierte und mit seiner Ausrüstung in der Luft herumfuchtelte, pöbelte er den ganzen Tag die Leute an. „Agha. Ja, du. Du beet-Kauer. Bist du taub? Laß deiner Frau eine Karte zukommen oder deinen Kindern oder deiner Schwiegermutter.“ Und: „Madame. Gute Frau in dem durchsichtigen Schleier. Sind Sie verheiratet? Haben Sie einen Vater? Was würde der sagen, wenn er Sie so angezogen sähe? Eine Postkarte für Ihre Freier?“
Er schrie jeden an, der ihm den Blick versperrte. Für ein paar tooman bastelte er Loblieder oder Drohbriefe zusammen. Er regelte den Verkehr. Immer bot er eine erstaunliche Bandbreite von Dienstleistungen an: „Beeilung, Beeilung. Schecks. Testamente. Notariatspapiere. Auf besonderen Wunsch auch Arbeitspapiere und Tagebucheintragungen.“ So hielt Haji hof an einer Ecke des Kanonenplatzes.
Säuerliche Skeptiker beobachteten ihn bei seinem Geschäft und sagten: „Dieser Mann ist ein öffentliches Ärgernis. Man kann ja nicht mal mehr unbelästigt über den Platz gehen.“ Arrogante Schwätzer sagten: „Man hört, daß er mit allerlei düsteren Kreaturen Umgang haben soll.“ Und kaltschnäuzige Zyniker sagten: „So Gott will wird die Konkurrenz seinen bösen Mund schon stopfen.“
Haji war wirklich ein harter Brocken für die Konkurrenz. Auf dem nicht sehr großen Platz versuchten alle möglichen Leute, alle möglichen Dienste an den Mann zu bringen. Verkäufer von bitteren Mandeln, Autoreifendiebe und Händler mit allem möglichen Zeug aus zweiter Hand hielten ihre Waren feil. Leberköche und beet-Verkäufer priesen ihre Waren. Geldverleiher, Bäcker und Schlachter schubsten sich gegenseitig aus dem Weg. Und auch ein Mann mit Schreibmaschine drückte sich hier herum, verbarg sich in dunklen Ecken, allzeit bereit, sich in Position zu bringen, sobald Haji einmal wegsah.
In all dem Durcheinander saß Haji und beobachtete das Treiben mit dem sehnsüchtigen Blick eines Kamels, das Baumwollsamen entdeckt hat. Wenn Passanten ihm entkamen, reguläre Kunden ihn ignorierten, wenn der Mensch mit der Schreibmaschine einen Kunden geangelt hatte und sich hinsetzte, um in die Tasten zu hauen, appellierte Haji direkt an die Inhaber der Stände. „Brüder, Kaufleute, Geschäftskollegen. Ich frage euch, gibt es Platz für mehr als einen Schriftsteller auf diesem Platz? Sagt euren Kunden, daß sie zu mir kommen sollen.“
Er erhöhte und senkte seine Preise, er fluchte und schmeichelte, er rief ungebetene Ratschläge in Richtung von Zuschauern, bis er einen zögernden Kunden so weit in die Enge getrieben hatte, daß sich der angelockte Mensch mit gekreuzten Beinen zu ihm setzte. Dann schnauzte er ihn an: „Sprich deutlich. Für wen ist der Brief?“ Und das war nur die erste von vielen Fragen. Eine halbe Stunde lang verhörte er den Kunden zu Inhalt und Zweck des Schriftstücks, den gewünschten Ton des Ganzen, Diktion, Stil und Länge. Dann leckte er seinen Bleistift an, hob die Augenbrauen, flüsterte ein inniges Allah Akbar und schrieb: „Laß mich dein Sklave und Diener sein, der Teppich unter deinen Füßen. Erlaube mir, Salaam zu sagen und dir meine Gebete zu widmen. Mein Vater sagt Salaam und widmet dir seine Gebete. Meine Mutter widmet dir Salaam und Gebet. Meine ganze Familie und Verwandschaft sagt Salaam und betet für dich.“ Und das Ende des Briefes war ähnlich. „Auf daß dein Schatten nie schwinde. Auf daß mein Kopf ein Balkon für deine Schritte sei. Dies grüne Blatt ist von deinem Diener und Sklaven.“ Zwischen diese zeremoniellen Einleitungen und Schlußsätze setzte er, wenn Platz war, ein paar Worte seines Kunden.
Gnade jedoch der armen Seele, die um leichte Veränderungen, Kürzungen oder Umformulierungen bat. Gnade dem Menschen, der sagte, er habe aber keine Mutter und keinen Vater. Derartige Frechheiten versetzten Haji in Wut. Er warf Bleistift und Papier weg und brüllte: „Wie bitte, mein Herr, Sie wissen es besser? Gehen Sie zu jemandem anderen. Holen Sie sich den Menschen mit der Schreibmaschine. Er war schon Gemüsehändler und Gynäkologe, hat einen Kurs in geographischer Astrologie gemacht und schreibt jetzt Postsachen. Außer ein paar blumigen Sätzen kann er nichts, ist er praktisch Analphabet. Aber er wird Ihnen gewiß besser zusagen.“
Manchmal ließ Haji seine Kunden auch warten. Er kaute nabat und gurgelte. Er säuberte sich die Fingernägel, schrubbte sich die Füße. Er hielt ein Schläfchen, er trank ein Glas Tee. Und dann sah er ganz urplötzlich den Briefkunden an und meinte: „Sie sind immer noch hier, mein Herr? Ich frage Sie: Wenn ein Mann seine Eselin auf dem Feld eines Freundes grasen läßt und ihn dafür bezahlt, und dann ist die Eselin am Ende trächtig – wem, mein Herr, glauben Sie gehört das Fohlen? Dem Besitzer des Tieres oder dem des Feldes? Das wissen Sie nicht? Darf ich Ihnen dann raten, wichtige Angelegenheiten lieber den Alten zu überlassen.“ Mit einer Handvoll solcher und ähnlicher Rätsel verunsicherte er den Kunden. Dann leckte er seinen Bleistift an, hob die Augenbrauen und sagte: „Sag mir nun, an wen soll der Brief gehen, und was willst du sagen?“
Neugierige fragten ihn: „Haji, warum fragst du die Leute überhaupt, was sie wollen?“ „Exzellenzen“, sagte er dann, „das sind ungebildete Menschen. Sie sagen mir, was sie ungefähr wollen, und ich forme daraus annehmbare Prosa.“
Dieses Argument überzeugte seine Freunde, machte aber auf seine Feinde keinerlei Eindruck. Arm in Arm spazierten säuerliche Skeptiker und kaltschnäuzige Zyniker über den Platz und sagten: „Dieser Tintenfinger bestiehlt arme, einfache Dorfbewohner. Seine ganze Familie sollte sich lieber nach ehrlicher Arbeit umsehen.“ Vernichtende Gerüchte kursierten nämlich über einen älteren Bruder von Haji, einen angeblich 99jährigen Heiler, Wahrsager und Bettler, der eine florierende Praxis in der Hauptmoschee aufgebaut hatte und regelmäßig epileptische Anfälle vortäuschte.
Leichtfertiges Geschwätz dieser Sorte kränkte ihn: „Woher soll ich wissen, wer sich als mein Bruder ausgibt? Ich habe überhaupt keine Verwandtschaft. Wahscheinlich schielt der Mann und kann nicht geradeaus gucken. Warum sollte er sonst in einem Haus, das für Gebete gedacht ist, sitzen und um Almosen bitten? Ich versichere euch“, setzte er noch hinzu, „diese Moscheebettler sind die allerverdächtigsten Charaktere.“
Die Uhrzeit zeigten ihm die Schulkinder an. Auf ihrem Weg zum dabestan gingen sie morgens um acht an ihm vorbei, ärgerten ihn in den Pausen und liefen um vier Uhr nachmittags nach Hause. Inzwischen hatte sich dann auch sein Klientel langsam erschöpft, er hatte einige Kupfermünzen eingenommen und sie sich in die Socken gesteckt.
Langsam ebbte das Geschrei auf dem Kanonenplatz ab. Händler schlossen ihre magazeh. Bettler, fliegende Händler und Hilfskräfte gingen ihrer Wege. Auch Haji machte dicht, sammelte seine Ausrüstung ein und suchte Schutz im Eingang eines Hauses oder auf der Schwelle eines Ladens.
Ganz bestimmt versah er einen wertvollen Dienst. Ganz bestimmt genoß er das Anlocken seiner Kunden und den Streit mit seinen Feinden. Und ganz bestimmt hätte er so weitergemacht, bis einem Eunuchen Milch aus der Brust kommt.
Eines Tages jedoch, es war weder heiß noch kalt, zur allergewöhnlichsten Stunde, der vorbestimmten Stunde, als der Horizont einem kohlrabenschwarzen Tuch glich, das mit Kampfer besprengt war, entdeckte Rostam Abbad die Revolution. Die Nachricht verbreitete sich die staubige Teheranstraße hinunter. Weise und weiße Bärte hörten es. Der Dorfexperte hörte es. Männer, die im Schatten eines Walnußbaums Backgammon spielten und Ferdousi rezitierten, hörten es. Kinder, die ihre heißen Füße im kalten Strom kühlten, hörten es.
Einige Bürger fürchteten sich vor der Sache. Eine Handvoll verkaufte ihren Besitz und wanderte nach Cleveland aus. Andere machten sich zu Revolutionswächtern. Sie patroullierten die Straßen, sie hielten Autos an, sie durchsuchten Häuser. Und sie befreiten den Schattenpalast. Das erregte großes Ausehen. Einige Leute organisierten Ausflüge zu dem Anwesen und Führungen durch den Palast, sahen die feuchten Gärten voll maryam und Narzissen, die vielen Säulen, die vielen Zimmer. Sie liefen nach Hause und sagten: „Da ist viel zu sehen.“ Am nächsten Tag erklomm schon eine größere Menge den Berg und versuchte, in den Palast zu kommen. Ein alter Offizier in Khakiuniform hielt sie am Tor auf und rief: „Geht nach Hause.“ Denn die Wächter hatten die Fenster verriegelt, Abhöranlagen an den Wänden installiert – und Rostam Abbads Revolutionskomittee für öffentliche Beschwerden war gegründet.
An einer Ecke des Kanonenplatzes saß Haji an seinem Stammplatz und wurde Zeuge der historischen Ereignisse. Er schrieb seine Briefe. Er kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten. Zwei Wochen nach diesem ganz gewöhnlichen Tag griff ihn sich ein uniformierter Wächter und fragte: „Haji, Haji, was hast du getan?“ – „Was hab' ich getan, mein Herr?“ – „Du brauchst mit uns nicht Versteck zu spielen, Haji. Dein Bruder hat für die Feinde der Revolution spioniert.“ – „Bruder? Ich habe keinen Bruder.“ – „Er hat alle möglichen Flugblätter in der Moschee verteilt und wer weiß, was noch alles. Kennst du ihn?“ – „Den Bettler? Ich habe von ihm gehört. Was soll sein? Seit 15 Jahren behauptet er schon, mit mir verwandt zu sein.“ – „Komm mit.“ – „Aber warum, meine Herren? Nur weil so ein Schwätzer behauptet, er sei mit mir verwandt? Ich habe diesen Menschen nie gesehen.“ – „Genug, Haji. Beweise es, und du bist frei.“
Geduldig folgte er ihnen. Der Palast war mit Menschen überfüllt. Wächter liefen hin und her. Hier und da weinten Verwandte von Verhafteten. „Setz dich“, befahlen die Wächter. Er setzte sich und staunte, vor Verwunderung einen Finger im Mund. Selbst die übertriebensten Berichte hatten ihn hierauf nicht vorbereitet. Ein Kronleuchter hing in jedem Raum. Eichentüren verbanden die Zimmer miteinander. Während Beamte hin und her rannten, Türen öffneten und wieder schlossen, zählte Haji 40 Kronleuchter und über 40 Teppiche, jeder glatt wie ein Damenbart. Diese Reichtümer sah er im ersten Stock. Womöglich, so sagte er sich, gab es sogar noch einen zweiten Stock, einen dritten und vierten, da sich die Wendeltreppe, die die Stockwerke verband, bis in den Himmel zu winden schien.
Stunden später kamen die Wächter zurrück und zerrten ihn in einen Saal, in dem Tausende von Büchern in Glasschränken standen. Da provozierten sie ihn. Beschuldigten ihn. Und immer wieder sagte er: „Ich bin kein Verräter. Dieser Mann ist nicht mein Bruder.“ Er verbrachte die Nacht zusammen mit Kommunisten und Taschendieben im Keller.
In den folgenden Monaten beteuerte er weiter seine Unschuld. Er fluchte. Er schwankte. Er schimpfte. Er schrieb eine Petition an die Stadtverwaltung, an all die verschiedenen Komitees, den Präsidenten der Republik. Jedesmal informierten ihn die Beamten: „Dein Bruder hat gestanden und sitzt in Teheran seine Strafe ab.“ – „Dieser Taugenichts ist nicht mein Bruder.“ – „Er hat auch dich belastet.“ – „Meine Herren, glauben Sie ihm nicht. Moscheebettler sind höchst unglaubwürdige Charaktere.“ – „Gestehe deine Verbrechen, oder zeige uns die Gegenbeweise.“ – „Wie soll ich das machen? Bin ich Biograph oder Schreiber von Geburtsurkunden?“ – „Führt diesen Idioten ab“, sagten sie.
Datteläugig und voller Angst marschierten jeden Tag Loyalisten, Royalisten und andere Antirevolutionäre in Handschellen heran und trafen ihre Kollegen in den Kellern des Schattenpalastes. Diese Verdächtigen bearbeiteten die Behörden schnell. Einige kamen frei, der Rest wurde in Lastwagen gepfercht und nach Teheran gekarrt. Keiner blieb so lange wie Haji. Die Beamten sagten ihm: „Wir haben dir kein Haar gekrümmt und dich nicht nach Teheran geschickt, wo sie dich wahrscheinlich foltern würden. Los, erzähl uns, was du weißt.“
„Ich weiß nichts“, antwortete er. „Absolut nichts.“ Er schrie. Er beklagte sich. Ein oder zwei Jahre vergingen. Er sagte nichts. Während die Teppiche langsam dünner wurden, sagte er nur immer wieder: „Ich weiß nichts.“ Während maryam und Narzissen im ungepfegten Garten hüfthoch wuchsen, sagte er: „Nichts. Nichts.“ Als der Palast – von unzähligen Füßen durchtrampelt, ein Opfer von Staub und Wind – schließlich schon etwas weniger prächtig aussah, sagte er: „Dieser Mann ist nicht mein Bruder. Ich weiß nichts.“ Und er schrie. Und er beklagte sich. Die Beamten fühlten durchaus mit ihm mit. „Haji“, sagten sie, „hör mit diesem Theater auf. Es gibt hier nur wegen dir keinen Frieden.“ Sie gaben ihm ein großes Zimmer im zweiten Stock und sagten: „Jetzt sei zufrieden. Du hast dein eigenes Zimmer mit Tisch und Stuhl und Blick auf den Garten.“ „Bitte“, fragte er, „wie lange noch. Wie lange?“ – „Das liegt nicht in unserer Hand. Teheran fordert Geständnisse von allen politischen Gefangenen. Du hättest schon vor Ewigkeiten einlenken können.“
Ein freundlicher Beamter hatte eine gute Idee. Er befahl, einen Stapel Zeitschriften aus der Bibliothek zu Haji hochzubringen, und sagte zu ihm: „Schau mal, Haji. Auf diesen Seiten gibt es Bilder von Frauen. Amerikanischen Frauen. Englischen Frauen. Sie sind verführt, wissen nicht Bescheid. Ihr Haar ist nicht bedeckt. Sie tragen ärmellose Blusen und tiefausgeschnittene Kleider. Du kannst deine Zeit hier gut nutzen. Bedecke ihre Blöße. Wir wollen die Zeitschriften nämlich gerne verteilen.“ „Bin ich Maler?“ schnaubte er.
Aber seine Tage waren lang, seine Nächte grau. Also nahm er einen Stift, wählte eine der Zeitschriften aus und setzte sich damit ans Fenster. Glänzende Bilder füllten den ausländischen Text. Er konnte kein Wort lesen. Aber es gab unglaublich viele Bilder. Die meisten schrien geradezu nach Arbeit. Von vorne bis hinten ging er die Hefte sorgfältig durch und benutzte seinen Stift an den notwendigen Stellen, verhüllte aufdringliche Knie und nackte Arme. Etwas an diesem Akt beruhigte ihn. Er nahm sich das nächste Heft vor. Als er den ganzen Stapel fertig hatte, bat er den Wächter um mehr.
Im Spätfrühling blickte der Wasserbüffel, ein Bein angezogen, sehnsüchtig nach Westen und hoffte auf Regen. Im Mittsommer glühten die Trauben hell wie Lampenschirme; an ihren Fäden hängend schien es selbst den Spinnen zu heiß für die Jagd. Der Herbst kam mit Schwere, fett wie eine Persimone, reifer und reifer – dann ging er und machte dem Winterschnee Platz. Hinter den Fensterscheiben flogen die Jahre vorbei, und Haji arbeitete.
Er wachte bei Sonnenaufgang auf und ackerte bis zum Sonnenuntergang. Den Beamten sagte er: „Ich bin im Verzug. Ihr könnt diese Zeitungen noch nicht verteilen. Ich arbeite Tag und Nacht, um sie fertig zu machen.“ Er arbeitete langsam. Jede Zeitung, jede Seite, jedes Foto bedeuteten ein neues Problem, eine neue Herausforderung.
Er stieß auf Frauen in allen möglichen Haltungen, in allen Staturen und Größen. Manche saßen auf Autos. Andere ruhten auf Kissen. Einige hielten irgendwelche Gegenstände in den Händen und lächelten. Manche zogen ein Gesicht. Einige waren süß wie Halva, andere scharf wie Sägen. Einige sahen dick aus. Einige dünn. Einige jung. Einige alt. Einige wirkten weich, einige hart und angespannt.
Bevor Haji sich an die Arbeit machte, sah er sich seine jeweiligen Opfer genau an, machte sich ihre besonderen Schwächen klar. Dann leckte er den Bleistift an und webte seine Schleier. Er bekleidete ihre sehnigen Beine und lackierten Nägel. Er übermalte ihre Hälse. Er bedeckte ihre Handgelenke und allzunackten Brüste. Mit der Spitze seines Stiftes streichelte er sie, schützte ihre nackten Glieder vor fremden und frechen Augen. Die er mochte, behandelte er so. Die er aber für schamlos hielt, attackierte er hart und zerriß sie fast.
Einmal im Monat bekam er amtlichen Besuch. Jedesmal zitterte er und sagte: „Ich bin noch nicht fertig. Ein paar Wochen im Verzug. Dabei arbeite ich Tag und Nacht.“ Eines Tages sagten sie: „Dein Bruder ist gestorben.“ – „Er war nicht mein Bruder.“ – „Wie dem auch sei. Wir werden uns in Teheran für dich einsetzen.“ Er nickte. Sie kamen zurück und sagten: „Sie sind hartnäckig. Aber verliere nicht den Mut. Wir haben noch andere Mittel.“ Inzwischen bewegte er sich ohne Aufsicht im Palast. Nur noch wenige Gefangene waren übrig. Das Gebäude hatte dringend Reparaturen nötig. Putz fiel von den Decken, Wände sackten ab, Säulen rissen. „Dieser Ort ist unbewohnbar“, sagten die Behörden. Sie bauten eine neue Einrichtung in der Nähe und sagten zu Haji: „Teheran besteht darauf. Sie wollen ein Geständnis.“ „Ich habe von merkwürdigeren Dingen gehört“, sagte Haji. „Ich habe gehört, daß der Mann mit der Schreibmaschine aufgeben mußte, weil Maurer, Händler, Dorfbewohner alle lesen und schreiben gelernt haben. Na ja – ich hab' zu tun.“
Als die Behörden die Evakuierung des Palastes vorbereiteten, erklärten sie: „Wir werden sie noch einmal kontaktieren, Haji. Verliere die Hoffnung nicht. Aber jetzt müssen wir dich in die neue Einrichtung bringen.“ – „Warum, meine Herren. Sind Sie mit meiner Arbeit unzufrieden? Ich werde noch härter arbeiten. Aber bitte erlauben Sie mir zu bleiben. Die Bücher und die Zeitungen sind doch hier.“
Und so kam es, daß Haji und ein alter Revolutionswächter die einzigen Bewohner des Schattenpalasts wurden. Sein Gefängniswärter kochte für ihn, wusch seine Kleidung und brachte ihm jeden Morgen ein Bündel Zeitschriften in den zweiten Stock. Mit seinem Stift in der Hand grüßte Haji ihn und sagte: „Soll ich zum Brunnen gehen und durstig zurückkommen? Falls das Amt nachfragt, sage ihnen, daß ich ohne Unterbrechung arbeite.“
Wenn es schneite, arbeitete er drinnen. Die gelben, wurmzerfressenen Blätter zerkrümelten unter seinen Händen. Moder und Staub irritierten seine Augen, ließen die Fingerspitzen jucken. Er arbeitete und arbeitete. Denn nachdem er sie bekleidet hatte, zugehängt und jede ihrer Kurven verschleiert, begannen ihre verblaßten Gesichter wieder zu glänzen, ihre Augen wurden größer, und ihre Lippen schienen zu zittern und ewige Verzauberung zu versprechen.
An Melonentagen und in Sommernächten stellte sein Wächter einen Stuhl auf einen der vielen Balkons, und dort arbeitete Haji dann weiter. Manchmal sahen ihn die säuerlichen Skeptiker und kaltschnäuzigen Zyniker auf diesen bröckelnden eivans sitzen, zeigten ihn ihren Enkeln und sagten: „Während der Revolution, so sagt man, war er ein Spion und hat viele umgebracht. Die Revolution, Ihr Lieben, habt Ihr davon gehört? Wißt Ihr von diesem großen Aufruhr?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen