: Der Rest war Geflüster
Die bekannteste DDR-Band, die keiner kannte, hieß Ornament und Verbrechen. Eine Gründung der Brüder Lippok, die bis heute obskure Geräusche vom Prenzlauer Berg aus senden. Ist es Barmusik oder Gesamtkunstwerk? ■ Von Thomas Winkler
Auf der Bühne des Roten Salons der Berliner Volksbühne sitzt ein Mann auf einem Barhocker. „Yawn a more roman way“, singt er, gähne auf eine eher römische Art – niemand wundert sich, was das bedeuten mag. Sparsam spendet sein Keyboard Klänge aus der Steinzeit der Klangerzeugung. Ein zweiter klappert mit Gitarre über die träge fließenden Beats. Ein Cello wird gestrichen.
Menschen lümmeln in den durchgesessenen Sesseln dieser Institution, einem der wenigen Plätze der Stadt, wo ganz unverhohlen aufeinanderzutreffen pflegt, was sich im westlichen wie im östlichen Teil der Stadt für Avantgarde hält und hielt. Es wird nicht gegähnt, aber wer steht, tut das versunken in sich. Die Band gibt der Barmusik noch eine Chance. Für einen kurzen Moment scheint es gar, als könne Berlin die elegante Coolness seiner 20er Jahre wieder auffangen.
Ein Phantom wirft lange Schatten
Die Band hört auf den Namen Tarwater, aber was sind schon Namen, wenn die Formation ständig wechselt? Sich verzweigt in Seitenprojekte, die mal Tarwater heißen, mal To Rococo Rot oder auch Bleibeil? Und doch ist das alles aus demselben Nukleus hervorgegangen, bewegt sich noch heute im langen Schatten einer Band, die nie eine sein wollte, mehr ein Phantom, ein klingendes Nichts, dessen Name in der verblichenen DDR mehr geflüstert als (offen) gehandelt: Ornament und Verbrechen.
Ornament und Verbrechen waren auf ihre Art so geheim, daß die Frage nicht ganz abwegig ist, ob es sie je gegeben hat. Und gleichzeitig dermaßen bekannt, daß ein kleiner Mythos sie umflorte. Eine garantiert nicht repräsentative Umfrage unter sieben ehemaligen DDR- Bürgern und –Bürgerinnen ergab: Nur einer hat den Namen Ornament und Verbrechen noch nie gehört; einer meinte: „Das sagt mir jetzt irgendwas, aber was?“; drei hatten früher „davon gehört“, aber nie einen Ton Musik vernommen; zwei hatten Ornament und Verbrechen schon vor der Wende mehrmals live gesehen.
„Eigentlich haben wir privat gearbeitet“, sagt Ronald Lippok heute über sein ehemaliges Projekt, „wir hätten es auch ernst genommen, wenn wir vor zwei Leuten rumgeblubbert hätten.“
„Wir waren“, meint Lippok, „wir waren eher ein Phänomen als eine Band.“
Kompostieren und kaputtbasteln
Wie so oft bei „Phänomenen“ sind die Details der Anfänge schon heute nicht mehr zu klären. Fest steht immerhin, daß Ornament und Verbrechen eine Brüdergründung sind: Im Sommer des Jahres 1983 in der Hauptstadt der DDR beschließen Ronald und der drei Jahre jüngere Robert Lippok, „eine Band zu machen“. Aber dann: Kam der Einfall beim „Kiesschütten“, wie Ronald glaubt? „Nein“, meint Robert, „beim Kompostieren.“
Den klingenden Namen lieh man sich von einem Vortragstitel des Wiener Architekten Adolf Loos, mit dem er sich 1908 gegen die Schnörkel der Sezessionisten wandte. Das war mal echt was anderes in einem Land, in dem Combos namens Karussell, Keks oder Kreis um die Publikumsgunst stritten. Paßte nicht ins real verordnete Schema von „Weltall Erde Mensch“. Und genau das brachte den Namen in aller Munde, schloß die Aufnahme in den Schoß des bürokratisierten DDR-Kulturbetriebs von vornherein aus.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Lippok-Brüder und ihr langjähriger Mitstreiter Bernd Jestram schon erste musikalische Gehversuche in der kleinen Punkrockszene Ost-Berlins getätigt. Die längst vergessenen Bands trugen Namen wie Vitamin P, Rosa Extra oder 5 Wochen im Ballon.
Alles neu machte die sommerliche Entscheidung im Garten der Eltern und Vater Lippoks Arbeitsstelle, das Autobahnkombinat Berlin, Betrieb Bohr- und Sprengtechnik. Von der Betriebskapelle erwirbt man das ausgediente Schlagzeug. Schnell finden sich noch „ein kleiner Casio“, auch mal ein Kassettenrekorder.
Technik nicht nur zu benutzen, sondern auch auseinanderzunehmen und irgendwie anders wieder zusammenzusetzen war für alle sogenannten Amateurbands realsozialistische Notwendigkeit. Ornament und Verbrechen erobern sie fortan zu einem Prinzip ihrer Klangerzeugung. „Kaputtbasteln“ nennt Robert, der sich jahrelang mit Schuhreparaturen durchs Leben schlug, den ganzen Zauber und hat bis heute nicht davon abgelassen. Noch vor einem Jahr ließ er in der Galerie Wohnmaschine im Bezirk Mitte drei Bohrmaschinen von der Decke baumeln, die alte RFT-Plattenspieler in Bewegung setzten und „fast Scratching“ betrieben.
Schöne neue Parallelwelt
Für solche Künstler gab es in der DDR kein Berufsbild. Man war entweder Musiker oder Maler mit Krankenversicherung, oder man war nichts. Ronald, der als Meisterschüler die Kunsthochschule abschloß, findet es noch heute „seltsam, wenn ich als Musiker bezeichnet werde“. Von Anfang an waren die Interessen der Lippoks wie überhaupt des Großteils des DDR-Undergrounds genreübergreifend. Illegale Ausstellungen, noch illegalere Lesungen in Wohnküchen, Verbindungen zu Theatergruppen, Literaturzeitschriften in fotokopierter Miniaturauflage, verziert mit Zeichnungen des Malereistudenten Ronald Lippok und des Künstlers Robert Lippok, beigelegt vielleicht noch eine Single. Der Prenzlauer Berg befruchtete sich in überschaubarem Inzest, wenn auch, wie man heute weiß, unter liebevoller Beaufsichtigung der Staatssicherheit.
„Vielleicht 30 Leute“, schätzt Bernd Jestram, waren zu irgendeinem Zeitpunkt mal Mitglied von Ornament und Verbrechen. Da gab es die aus Chicago gekommene, extrovertierte Malerin Sarah Marrs, die schließlich ging, weil sie eher Gitarrenrock machen wollte. Und es gab Bo Kondren, der zeitweise kaum sein mit Technik vollgestopftes Zimmer verließ und heute noch mit Jestram zusammenarbeitet. Offiziell aufgenommen wurde niemand, gefeuert auch nicht, „alles ergab sich aus dem Arbeitsprozeß“. Geübt wurde sowieso nicht, statt dessen „gab es immer wieder einen Anlaß, weswegen weitergearbeitet wurde“. Ein Auftritt, ein Theaterstück, eine Ausstellungseröffnung. Ornament und Verbrechen war ein ziellos torkelndes Mutterschiff, das Heimat und Geborgenheit bot, die Andockstationen jederzeit offen und praktisch ohne Zollkontrolle. Der Rest war Geflüster.
Voraussetzung für dieses Leben in der Parallelwelt bot – auch das sieht man heute klarer – das soziale Netz des Arbeiter-und-Bauern- Staates: Um die im westlichen Koordinatensystem so bedrohlichen Finanzen brauchte man sich nur selten zu sorgen. „Die paar Kröten“, erzählt Bernd Jestram, „die du zum Leben brauchtest, die hattest du immer.“ Die seinen verdiente er als Heizer in einem Schachclub: 218 Mark im Monat, und „im Sommer hatte ich frei“. Erst als Ornament und Verbrechen 1989 von Thomas Langhoff für dessen Inszenierung von Brendan Behans „Die Geisel“ im Deutschen Theater verpflichtet wurden, mußten sie schließlich doch die verhaßte „Einstufung“ machen, denn ohne hätte ihnen das Theater kein Geld zahlen können. Der Einfluß von Langhoff auf offizielle Stellen war aber auch zu diesem Zeitpunkt noch nötig, um den Namen genehmigt zu bekommen.
Trauer und Feier der Endzeit
In keiner – auch nie in ihrer letzten – Phase waren Ornament und Verbrechen erklärte Feinde des Staates, eher Insassen ihres eigenen Schrebergartens. Trotzdem waren am Ende Vernehmungen regelmäßig, Konzerte wurden abgebrochen, mal von der Feuerwehr, mal von der Staatssicherheit höchstpersönlich, schließlich Auftrittsverbote. „Die Konflikte, die wir hatten“, so sieht es Ronald heute, „ergaben sich weniger aus politischen Entscheidungen als aus ästhetischen.“ Warum der Staat so hektisch reagierte, erklärt er sich heute mit Plato, nach dem „man das Staatswesen ändert, wenn man die Musik ändert“. Innerhalb der DDR, die für alle, vom Fließbandarbeiter bis zum Künstler, einen geregelten Ausbildungsgang vorschrieb, war die Auflösung künstlerischer Produktionseinheiten mit Gewerkschaftsausweis und Rentenanspruch wenn schon nicht eine Bedrohung, so doch eine Irritation.
Im Januar 1986 verläßt Bernd Jestram die DDR „aus reiner Verzweiflung“. Er war nicht der erste, und er sollte nicht der letzte sein. Längst war die „offene Struktur“ O&V auch zu tragischer Notwendigkeit geworden. Anfang 1989 geht Robert in den Westen. Der zurückgebliebene Rest beginnt mit den Aufnahmen zu „On Eyes“, der ersten LP, einer Sammlung düsterer Dance-Nummern. Diese Platte wird das Stringenteste bleiben, das O&V jemals zustande gebracht haben. Die Aufnahmen entstanden zum großen Teil noch vor der Maueröffnung, und in jenen Tagen wurde viel getrunken, eine tränenreiche Ausreiseparty folgte der anderen. Gerade weil Bernd und Robert nicht dabei waren, ist diese Platte mit ihrer Endzeitstimmung, die das Verlassensein betrauert und feiert, in gewisser Weise auch ihr Vermächtnis für die verbleichende DDR. Erscheinen konnte „On Eyes“ aber erst 1990.
Leipzig, Florenz, ABM, Gaultier
Was seit Maueröffnung, der geistig-moralischen „Wende“, passierte, ist weniger gut zu erzählen. Doch die Geschichte hat nach wie vor ein Standbein im Prenzlauer Berg, in Kneipen, die an jeder Ecke eröffnen und niemals ohne den Zusatz „Galerie“ auszukommen scheinen. Man trinkt sein Bier unter Ölgemälden, und der Gesamtkunstanspruch bäumt sich ein letztes Mal auf, bevor ABM und Marktwirtschaft die Attraktionen des wilden Ostens ins graue bundesrepublikanische Alles-ist-erlaubt führen.
Auch der Nukleus von Ornament und Verbrechen findet wieder zusammen, die Organisation aber bleibt chaotisch wie früher. Einen Plattendeal mit Alfred Hilsbergs ZickZack-Label läßt man nach einer ersten Maxisingle platzen, weil man vergißt, zurückzurufen. Wieder wechseln die Musiker hurtig, wieder treibt man genreübergreifend von Projekt zu Projekt. Mal ist es ein tumultuöser Auftritt bei der Leipziger Buchmesse 1991, mal eine Woche in Florenz, wo man die Modenschauen einer Herrenoberbekleidungsmesse beschallt und Parties bei Gaultier feiert. Worauf man sich verlassen kann, ist, daß man sich auf nichts verlassen kann.
Einen vorläufigen Schlußpunkt setzt die zweite und bisher letzte LP „Super De Luxe Transistor Radio“, die nicht nur so heißt, sondern auch klingt wie ein Radioprogramm voller Lieblingssongs. So unheitlich ist sie doch recht nah an dem, was Ornament und Verbrechen über all die Jahre war. Seit dieser Platte liegt das Konzept mehr oder weniger brach, „hat sich erschöpft“, vielleicht auch überhöht. „Irgendwann gab es eine große Ratlosigkeit“, sagt Bernd.
Stetes Tröpfeln von Elektro und TripHop
„Alles war nur so angedacht“, erkennt Robert heute, „und jetzt war es an der Zeit, das alles mal auszuformulieren.“ Dazu splittete man sich auf und ging zu „kompakteren Einheiten“ über. Bernd und Ronald wollten schon seit Jahren „mal was alleine machen“. So entstand Tarwater – zu zweit, „so überschaubar hat man ganz andere Möglichkeiten, schon logistisch“, hat Ronald erkannt. Und als wollten sie nun im Schnelldurchgang nachholen, was in mehr als einem Jahrzehnt nicht zustande kam, stürzen sie sich in eine ungeahnte Veröffentlichungsflut. Mit Hanns Zischler als Sprecher hat man John Donnes „Todesduell“ vertont. Und auf „Eleven/six twelve/ten“ Texte von Donne, Walt Whitman, W.A. Hopkins oder Marc Bolan in ein ebenso morbides wie elegantes Elektrotröpfeln gepackt. „TripHop“ nennt es Robert ein wenig gehässig – „er meint das als Schimpfwort“ (Bernd). Beide Platten erschienen kurz hintereinander, und bald schon soll eine Trilogie komplettiert werden.
Niemand hat gesagt, es gibt O&V nicht mehr
Und als To Rococo Rot stellen die beiden Lippoks mit Stefan Schneider von der Düsseldorfer Band Kreidler zerbrechliche Instrumentals her. Auf dem selbstbetitelten Debüt treiben Farfisa-Orgeln, Moogs und andere altertümliche Synthesizer ihr monotones Spiel. Meist ein ruhiges Fließen, das schon auch mal in eine fast kindliche Betriebsamkeit rutscht: Habt ihr dieses obskure Geräusch schon mal gehört? Der Nachfolger soll im Februar erscheinen.
Die Zeiten haben sich geändert, aber manches ist auch gleich geblieben; nach wie vor ist man weit davon entfernt, von der Musik leben zu können (Ausnahme: Jestram, der sich mit Produzentenjobs über die Runden bringt). Bei den seltenen Auftritten trifft sich weiterhin nahezu komplett die alte In-Crowd, bestenfalls erweitert durch entsprechend veranlagten Zuwachs aus dem Westen.
Ob die Neudefinition der Barmusik im Sinne von O&V und Nachfolgern jemals über die inneren Zirkel hinausgelangen wird, ist so ungewiß wie der genaue Termin des Regierungsumzugs. Der „Osten“ ist – von Nostalgieparties abgesehen – kulturindustriell immer noch ein weitgehend unausgeschöpftes Terrain. Doch solange niemand nichts Genaues weiß, sind auch Namen und Idee von O&V nicht aus der Welt, und sei es aus Sentimentalität. „Wir haben nie gesagt“, stellt Ronald klar, „Ornament und Verbrechen gibt es noch. Wir haben aber auch nie gesagt, es gibt sie nicht mehr.“
To Rococo Rot (Kitty-Yo/Indigo)
Tarwater: „eleven/six twelve/ten“ (Kitty-Yo/Indigo)
John Donne „Todesduell“, Predigt: Hanns Zischler, Musik: Tarwater, Verlagshaus Galrev (über Kitty-Yo)
Diskographie Ornament und Verbrechen:
– „Pair“ (MC 1984, Assorted Nuts)
– „Life in Paradise“ (LP 1985, Good Noise), Sampler mit Ost- Underground ohne Nennung der Bands
– „Totmaul“ (MC, 1988, Eigenvertrieb)
– „Local Moon“ (Single, 1988, vertrieben durch Literaturzeitschrift „Zur Verwendung“)
– „On Eyes“ (LP, 1990, Hidden Records/EFA)
– „Tunes“ (Maxi, 1992, Aus lauter Liebe/Indigo)
– „Eine eigene Gesellschaft mit eigener Moral“ (CD-Sampler, 1992, Whats So Funny About/EFA)
– „Super De Luxe Transistor Radio“ (CD, 1994, Eigenvertrieb)
– „Langer Hals“ (Single, 1995, Eigenvertrieb)
Als Bleibeil:
– „Rauhensee“ (LP, 1990, Eigenvertrieb)
– „Rauhensee“ (CD, 1993, Strange Ways/Indigo)
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