: Das Leben ist ein unbezahlbarer Traum
Die Armut läßt den ledigen Müttern in Ungarn keine Chance. Wer sein Kind nicht ernähren kann, ist gezwungen, es zur Adoption freizugeben. Die Selbstmordrate unter den Jugendlichen ist hoch ■ Aus Budapest Regine Kimmel
Im Budapester Schöpf-Merei- Krankenhaus steht in einer windgeschützten Nische ein Brutkasten. Es ist zugig hier im Foyer. Tag und Nacht ist die massive Holztür der Klinik geöffnet. Der aufklappbare durchsichtige Kasten ist mit einem Kissen gepolstert. 36 Grad Celsius zeigt das Thermometer im Brutkasten. Ein Ort zum Überleben. Allein in Budapest wurden im letzten Jahr 250 Säuglinge in Müllcontainer geworfen, vor Kirchentore gelegt oder in Toiletten zurückgelassen.
„Vielleicht hätte ich mein Kind auch in diesen Kasten gelegt“, sagt Mária, 18 Jahre alt und seit zwei Wochen Mutter, „wenn ich nicht im Schöpf-Merei-Krankenhaus umsonst hätte entbinden können.“ Mária, die ungewollt schwanger wurde, hätte die Kosten für eine stationäre Geburt nicht bezahlen können – das Krankenhaus übernahm sie. Zwei Monate kann Mária ihren Sohn kostenlos im Krankenhaus lassen, dann muß sie sich entscheiden, ob sie ihr Neugeborenes behalten oder zur Adoption freigeben will.
„Nur den Brutkasten aufzustellen, wäre uns zuwenig gewesen“, sagt Seress Tóth Emöke, leitende Kinderärztin am Schöpf-Merei- Krankenhaus. „Will man den Kindern helfen, muß man auch den Frauen helfen“, fügt sie hinzu. Bevor sie das „Mutter-Baby-Programm“ initiierte, kämpfte sie zehn Jahre lang auf der Intensivstation um das Leben der Kinder. „Jetzt bin ich mit Müttern konfrontiert“, sagt sie, „die ihre Kinder nicht haben wollen oder können.“
In den letzten vier Monaten haben 53 Frauen das Angebot des Krankenhauses angenommen. Die Hälfte von ihnen war zwischen 18 und 25 Jahre alt und meistens alleinstehend. Wie Mária.
In einem U-Bahnschacht verkauft sie auf einem Handtuch aufgestapelte Paprika. Andere Jugendliche bieten in Zellophan eingewickelte Rosen an oder Schlipse, die ihnen über dem Arm hängen. Mária zieht ihre weiße, dünne Regenjacke zu, die sie über der abgetragenen Jeans und dem ausgewaschenen Sweatshirt trägt. „Wenn du hier länger stehst, wird es ganz schön kalt“, sagt sie. Ihre Lippen sind aufgesprungen. Geld für eine wärmere Jacke hat sie nicht, für ein Zimmer schon gar nicht. Ihre Eltern haben sie vor die Tür gesetzt, als nicht mehr zu übersehen war, daß sie – unverheiratet – ein Kind erwartet. Für ein halbes Jahr kann sie als junge Mutter in einer staatlichen Unterkunft wohnen.
Wenn Mária sich abends vom Verkauf der Paprika heiser gerufen hat, läuft sie 45 Minuten zum Stillen ins Schöpf-Merei-Krankenhaus. U-Bahnfahren wäre unbezahlbarer Luxus. Das Schöpf-Merei liegt im achten Bezirk. Hier bieten in dunklen Hinterhöfen junge Frauen ihren Körper an, einige auch in der Innenstadt. Anfang des Jahres mußte das bekannteste Budapester Hotel – das „Gellert“ – seine Bar schließen, weil die Prostitution überhandnahm. „Prostitution ist ein Tor von der Armut in ein besseres Leben“, sagt Judith Thorma Asbóth, Präsidentin von Magyar Nök Szövetsége, dem größten Frauenverband Ungarns.
Mária geht weiter und sieht nur kurz zu dem alten Mann hinüber, der sich mühsam über dem Sperrmüll auf der Straße bückt. Seine abgewetzte, dreckige Jacke wird mit einem Strick zusammengehalten. Die Schätze, die er aus dem Sperrmüll ergattert – Draht und eine verrostete Türklinke –, steckt er in eine Tasche, deren Nähte sich auflösen.
Sie geht die Treppe zum ersten Stock der Klinik hinauf, wo die „kleinen Ungewollten“ untergebracht sind: drei Mädchen und zwei Jungen. Vier sind bereits zur Adoption freigegeben. Nur Mária hat die Papiere noch nicht unterschrieben. Sie möchte ihren Sohn behalten, hat ihm aber nichts zu bieten als ein Leben in Armut. Zudem hat die sozialistische Regierung im letzten Jahr die Zahlung des Mutterschaftsgeldes von 36 auf 12 Monate verkürzt und die Bestimmungen für die Arbeitslosenunterstützung verschärft.
Im Gegenatz zu Mária haben Mónika und Ildikó einen festen Arbeitsplatz. Ildikó arbeitet als Intensivschwester und verdient 30.000 Forint (300 Mark) im Monat. Seit sieben Jahren lebt sie im Schwesternwohnheim. Eine Zweizimmerwohnung im billigen Stadtteil Buda kostet 40.000 bis 80.000 Forint. Auf dem Tisch in ihrem Zimmer liegt ein aufgeschlagener Ikea-Katalog in ungarischer Sprache – der Traum vom westlichen Way of life. Die ungarische Realität: zehn Quadratmeter, Waschecke, ein Bett, ein in die Wand eingelassener Schrank, der Tisch vor dem Fenster, ein Stuhl, Regale – mehr Platz bietet der Raum nicht. Im Bettkasten lagert sie eingeweckte Birnen, Pfirsiche und Gurken. Im einzigen Etagen- Kühlschrank für 25 Schwestern hat sie Gemüse eingefroren. Dank der Ernte aus dem Garten der Eltern spart sie Geld. Die Stromkosten sind in diesem Jahr bis zu 70 Prozent gestiegen. Fahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel kosten 40 Prozent mehr, Telefonieren ist teurer geworden und Porto auch. Dagegen sanken 1995 die Reallöhne um elf Prozent. Die Inflation soll in diesem Jahr nicht über 20 Prozent steigen, verspricht die sozialistische Regierung. Doch im Vorjahr erreichte sie – trotz anderer Prognosen – 29 Prozent.
Seit sechs Monaten legt Ildikó Geld zurück für die begehrte Levis 501. Sie kostet 14.000 Forint – die Hälfte von Ildikós Monatslohn. Sie träumt vom Heiraten, von Kindern, eigenen vier Wänden. Unbezahlbare Träume. „Mit meinem Schwesterngehalt werde ich das nie können“, sagt sie und fährt sich mit der Hand durch das Haar.
Im Gegensatz zu Ildikó und Mária zählt Mónika zu den besserverdienenden Frauen. Ihre Eltern konnten ihr während der Schulzeit die kostspieligen Vorbereitungskurse für die Universität bezahlen, ohne die kaum einer die Aufnahmeprüfung schafft, und ein Studium finanzieren. Mónika hatte Glück: Sie machte Examen, bevor die sozialistische Regierung im September Studiengebühren einführte, je nach Fachgebiet zwischen 2.000 und 8.000 Forint (200 bis 800 Mark). Seit acht Monaten arbeitet Mónika als Promoterin bei einer griechischen Marketingfirma. Seit der Wende vor sieben Jahren sind nur noch 90 der 200 größten Unternehmen in ungarischer Hand. Die Regale der Supermärkte sind mit ausländischen Waren gefüllt. Die Supermärkte heißen Aldi und Edeka.
Geschminkt, im kurzen Rock und hochhackigen Schuhen präsentiert Mónika ihren Landsleuten ausländische Produkte: die Damenbinde Always, Danone-Joghurt oder Hugo-Boss-Anzüge. Die Firma überweist ihr 41.000 Forint (410 Mark) netto auf ihr Konto. Davon kann sie sich ein stahlblaues Mountainbike, italienisches Parfüm und jeden Monat einen Kinofilm leisten, aber keine Wohnung für sich allein. Noch wohnt sie für 8.000 Forint zur Untermiete bei einer älteren Frau, die dadurch die Rente aufbessert. Bis zum Zentrum sind es drei U-Bahnstationen. Dort liegen die wenigen sauberen Straßen Budapests mit renovierten Fassaden und beleuchteten Schaufenstern. Jetzt sucht sie mit einer Freundin eine Wohnung. In drei Jahren will sie heiraten, Kinder kriegen und weiterarbeiten – auch wenn ihr Mann genug verdienen sollte. „Die finanzielle Unabhängigkeit schmeckt gut“, sagt sie. Weiterarbeiten – damit würde sie in Ungarn die Tradition brechen: Ehefrauen geben – wenn die Familie auf ihr Einkommen verzichten kann – ihren Job auf und leben für Mann und Kinder.
Ein Leben, wie Mónika es führt, bleibt für die meisten jungen Ungarinnen ein Traum. „Statistiken zeigen, daß 1994 über ein Drittel der ungarischen Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebte“, sagt Rudolf Andorka, Soziologe und Rektor der Ökonomischen Universität in Budapest. Dieser Anteil hat sich gegenüber den 80er Jahren verdreifacht und nimmt weiter zu. Das Einkommen einer Familie reicht – trotz Schwarzarbeit – oft nicht für Miete, Essen und Kleidung aus.
82 Prozent der Jugendlichen schätzen ihre Lage als schlecht ein, 13,7 Prozent als sehr schlecht. Doch für Politik interessieren sie sich nur am Rande. Die parteigebundenen Jugendorganisationen haben kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit, teure Wohnungen, fehlende Perspektiven. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Probleme zu lösen, sondern darauf aufmerksam zu machen“, sagen sowohl die Jungen Christdemokraten als auch die Jungen Sozialisten. Statt Lösungen bieten die Christdemokraten Zeltlager und Tanzveranstaltungen, die Sozialisten Nachhilfeunterricht, Drogen- und Aidsberatung. Kein attraktives Angebot, denn allen Jugendorganisationen fehlen Mitglieder. Nur vier Prozent der Jugendlichen engagieren sich in einer gesellschaftlichen oder kirchlichen Organisation.
In keinem anderen Land bringen sich so viele Jugendliche um wie in Ungarn. Selbstmord gilt hier fast als ein natürlicher Tod. „Ich sehe einen engen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation und schweren Depressionen“, sagt Mária Kopp, Ärztin und Leiterin des Instituts für Verhaltensforschung an der Universität Budapest. Sie erzählt einen alltäglichen Fall: Ein junger Mann will Ingenieur werden. Die Aufnahmeprüfung an der Universität besteht er nicht, wie 85 Prozent seiner Alterskollegen. Der Lebenstraum des Mannes zerschellt wie die Träume anderer, die keine Arbeit finden, keine Wohnung. Er bringt sich um. „Das ist typisch für die Ungarn“, sagt Kopp, „sie wollen ihr Leben kontrollieren. Und wenn das nicht möglich ist, dann wenigstens ihren Tod.“
Mária ist wieder einmal auf dem Weg zur Klinik. Heute wird sie ihren Sohn zum letzten Mal stillen. Sie hat sich entschieden, die Adoptionspapiere zu unterschreiben. Auch die Großmutter kann den Enkel nicht aufnehmen. Mária weint. 1996 heißt in Ungarn ganz offiziell „das Jahr der Schmerzen“.
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