: Statt Paradies der Tod im Meer
Immer mehr Boat people tauchen vor den südlichsten Inseln Italiens auf. Unter großem Risiko versuchen sie, irgendwie an Land zu gelangen ■ Aus Lampedusa Werner Raith
Der Befehl „Volle Kraft voraus“ kommt derart überraschend, daß an der hinteren Reling fast alle Mühe haben, sich zu halten. Dabei wußten zunächst weder Kommandant noch Steuermann, in welche Richtung die Fahrt eigentlich gehen sollte: Der Funker hatte, beim systematischen Herumdrehen der Abhöranlage, den verschwommenen Ruf „Scheiße, bei uns sind ein paar ins Meer gefallen!“ aufgefangen und die Nachricht hochgerufen, und schon brauste das Küstenwachschiff los.
Es dauert gut zehn Minuten, bis der ungefähre Ort ausgemacht ist. Gut zwei Dutzend Kutter und Kähne zeigt das Radar, und die Funkanlage gibt weitere Dialoge wieder, die auf Hektik und Bergungsaktivitäten hinweisen, Dennoch: Formal erfolgt keinerlei Hilferuf. Für Kommandant Berghini ein „sicherer Anhaltspunkt, daß wir da wieder Kunden haben“: „Kunden“, das sind illegale Menschenschleuser, die arme Kerle aus Afrika oder Asien („Extrakommunitäre“, Menschen von außerhalb der EU) übers Meer schippern und dann auf europäischen Stränden absetzen. Bevorzugt sind dabei in letzter Zeit die südlichsten Inseln Italiens, vor allem Linosa und Lampedusa.
Kommandant Berghini pafft eifrig an seiner Zigarre und sucht die aufspritzende Gischt zu durchdringen. Nach einer Viertelstunde tauchen die ersten Positionslichter von Kuttern auf. Steuermann Bangli flüstert mit dem Kommandanten, zeigt auf die verschiedene Position der Schiffe auf der Karte und dem Radarschirm, beide nicken. Feldwebel Orsini von der Zollbehörde übersetzt die Gesten: „Merkwürdige Stellung der Schiffe zueinander wohl.“ Wenn sie nur fischen würden, müßten sie anders aufgefahren sein; außerdem mißtraut die Crew sowieso allen, die in solchen Nächten draußen sind – es ist Neumond.
Kommandant Berghini fordert per Megaphon die ersten beiden Fischkutter auf, sich auszuweisen, vergleicht mit den Einträgen der Hafenbehörden von Lampedusa, schreibt Protokolle. Auch das dritte, vierte, fünfte Schiff ist registriert. Ob die Fischer hier etwas von über Bord gegangenen Leuten wissen? Niemand hat etwas gehört. Erst bei dem elften Schiff gibt es eine vage Antwort: „Gut zwei Seemeilen weiter“ habe man vor einer Stunde ein größeres Schiff mit merkwürdig abgedunkelten Positionslichtern gesehen, dabei drei kleinere, „so um die 20, 25 Meter“. Gekümmert habe man sich nicht darum. „Klar“, brummt Berghini, „die haben Schiß, sich mit denen anzulegen, die ballern da schon mal mit dem Gewehr los.“
Für alle Fälle beordert er nun vier weitere Patrouillen in das Gebiet. Das größere Schiff selbst glaubt Radarbeobachter Manghini auf seinem Schirm bereits ausgemacht zu haben, dazu kommt auch noch ein Satelliten-Infrarot- Bild über Funkfax durch: Es könnte sich um die gesuchte Gruppe handeln.
Der Anblick der vielen Schiffe stimmt den Kommandanten nicht freudig: „Ein Libanese“, stellt er fest, „und daneben ein Kraut-und- Rüben-Salat von Billigflaggen.“ Nicht drei, sondern sechs Kutter schwimmen um das etwa 5.000 Bruttoregistertonnen schwere verrostete Schiff herum. Der Name könnte Johny oder Jenny heißen, dahinter ein Buchstabe, ein S oder auch eine 8.
Die scheinbare Ruhe, die auf allen Schiffen herrscht, erfüllt die Crew hier mit noch mehr Mißtrauen. „Wir müssen sofort rein, sonst lassen die die armen Kerle einfach absaufen.“ Mit dem Megaphon – nachdem Funkanrufe keine Antwort erheben – fordert Berghini das Schiff in englischer Sprache auf, sofort seinen Kapitän an die Reling zu holen. „Wir wissen, daß Ihnen Personen über Bord gegangen sind“, schreit Berghini, „und wenn Sie nicht sofort weitermachen mit der Suche nach ihnen, verhafte ich Sie, notfalls auch hier außerhalb der Zehnmeilenzone.“ Der Kapitän tut so, als verstehe er nicht; hält die Hand ans Ohr. Dann wird er gesprächiger, als ihn einer seiner Maaten auf die heranbrausenden weiteren Patrouillenschiffe aufmerksam macht. Die haben allerdings zunächst vor allem damit zu tun, die auseinanderflutschenden kleineren Kutter wieder zusammenzutreiben. Besonders einer sucht sich immer wieder davonzustehlen – später wird sich herausstellen, daß er nicht zu den Kumpanen hier gehörte, sondern tatsächlich unvermutet als von deren Konkurrenz losgeschickter Störenfried aufgetaucht war.
Auf einem der Kutter regt sich backbord etwas: Gut ein Dutzend Leute winkt mit Tüchern in den Scheinwerfer der Patrouille, doch plötzlich verschwinden sie unversehens in den Schiffsbauch. Kommandant Berghini gibt einer der Nachbarpatrouillen die Order, sofort dort anzudocken. Wenige Minuten später ruft die Patrouille zurück: „Alles hierher, die brauchen Hilfe.“ Um das Schiff herum sind im Scheinwerferlicht zehn, fünfzehn Rettunsringe zu erkennen, in einigen hängen offenbar Gestalten, doch die Bergung macht Schwierigkeiten: Die Wellen drohen die Ertrinkenden gegen die Bordwände zu schleudern. Das vorderste Patrouillenschiff wirft nun seinerseits Rettungsringe aus. „Die Scheiße ist, daß die kein Italienisch verstehen“, schreit Feldwebel Orsini durch die aufspritzende Gischt, „und auch fast kein Englisch: Wie soll man denen sagen, daß sie aus ihrem raus und in unseren Ring reinsollen!“ Der Kommandant läßt das Scheinwerferlicht auf sich richten, versucht mit Handbewegungen anzudeuten, was die Menschen im Meer tun sollen – vergebens. „Die sind vielleicht ohnmächtig oder schon tot“, meint Steuermann Bangli, „da müssen wir selber runter.“
Zehn Minuten später hieven die Männer unter großen Mühen drei leblos wirkende Burschen an Bord. Alle drei leben, alle drei kommen nach kurzer Zeit wieder zu sich, alle drei verstehen kein Wort. „Drüben haben sie auch noch zwei rausgefischt“, informiert der Funker, und Patrouille 5 hat auch noch ein paar ausgemacht.
Die Männer aus dem Meer haben dunkle Haut, sind unrasiert und offenbar vor allem wegen ihrer Magerkeit entkräftet. Sie waren beim „Umsteigen“ aus einer Schaluppe gefallen, glücklicherweise werden alle geborgen. „Routine,“ wiegelt Kommandant Borghini ab, „so etwas passiert fast jede zweite Nacht, über so was berichtet nicht mal mehr die Lokalpresse.“ Seit die Menschenschmuggler immer häufiger in Küstennähe von italienischen Schnellbooten aufgebracht oder abgedrängt wurden, haben sie umgestellt, lassen ihre illegalen Gäste – von denen jeder bis zu sechstausend Dollar für die Passage bezahlt hat – auf hoher See umsteigen auf kleinere Schiffe, meist Fischkutter lokaler Banden, und drehen dann wieder ab für neue Fuhren. Um Weihnachten sind bei einem solchen Manöver nach Aussagen Überlebender zwischen Malta und Sizilien an die dreihundert Menschen ertrunken, und seither „haben wir uns vor allem aufs Rettungsschwimmen spezialisiert“, sagt Kommandant Berghini etwas sarkastisch, „denn festnehmen dürfen wir die Leute außerhalb der Küstenzonen ja nicht“.
Dennoch wird nun das Schiff durchsucht, auf dem vorher die winkenden Menschen beobachtet wurden. An die fünfundzwanzig „Extrakommunitäre“ finden die Beamten, und die geschmuggelten Menschen empfangen sie mit Geldscheinen und Schnapsflaschen: „Take it, take it“, ruft einer, „and save our families!“ – ein Spruch, den die Küstenwächter schon kennen: Die Menschen wollen nicht zurückgeschickt werden, sondern irgendeine Arbeit, damit ihre Familien in Bangladesch oder Somalia nicht verhungern. Kommandant Berghini schaut hilflos von einem seiner Mitarbeiter zum anderen – die nicken alle. Fast unmerklich, aber für ihn doch erkennbar. „Was soll man machen, ich habe absolute Order, die Leute nicht an Land zu bringen.“ Andererseits, „andererseits, wenn ich die zurückschicke, werfen diese Gangster sie vielleicht noch einmal ins Wasser, diesmal absichtlich“.
Für die vorm Ertrinken Geretteten hat er eine Begründung – sie gelten als krank, außerdem will er ihre Identität feststellen: „Pakistani“ sagen die Männer, aber der Kommandant will sichergehen. Allerdings weiß er auch, daß die Hafenbehörden in Lampedusa höchst skeptisch sind, wenn „Schiffbrüchige“ hereingeschafft werden – eine ganze Reihe von Schmugglern hat versucht, ihre Leute mit solchen Begründungen an Land zu schaffen – einfach, um sie loszuwerden.
Die anderen fünfundzwanzig müßten eigentlich sofort zurück auf das Schiff, das sie hergebracht hat. „Scheiß drauf“, sagt der Kommandant plötzlich und gibt eine neue Order aus: Der Kutter mit den Illegalen wird doch in den Hafen eskortiert. „Ich brauch' sie als Zeugen, vielleicht kann man den Kapitän wegen Mordversuchs anzeigen.“ Feldwebel Orsini hebt die Schultern: „So ist der eben, der Comandante, es fällt ihm immer etwas ein.“
Das Schiff läuft in Lampedusa ein, als es schon längst Tag ist. Am Hafen warten gut zwei Dutzend Polizisten auf die Zuwanderer. Die geraten ob des Anblicks der Ordnungshüter regelrecht in Euphorie. „Die glauben, jetzt sind sie gerettet“, brummt Kommandant Berghini, „aber da geht nichts.“
Am nächsten Tag ist die Hoffnung der meisten Boat people schon wieder zunichte: Am Flugplatz steht ein Transportflieger, Polizisten führen die Männer zum Flugzeug – sie werden abgeschoben, auf die ganz Schnelle. Wahrscheinlich werden sie in Malta landen – dort hat angeblich das große Schiff zuletzt geankert.
Nur die acht, die ins Wasser gefallen sind, bleiben noch da. „Und dann wundern sich die Leute in Rom, wenn plötzlich alle, die hier reinwollen, behaupten, sie seien ins Wasser gefallen“, schüttelt Kommandant Berghini den Kopf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen