: Tupfenblusen und andere letzte Dinge
Keine Lieder über Gemüsekauf. Gillian Welch bringt den dunklen Ton in die Countrymusik zurück ■ Von Christoph Wagner
Bis vor kurzem gehörte auch Gillian Welch zum Heer der namenlosen Talente, die in Nashville auf ihre große Chance warten. Sie hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, nahm an Nachwuchswettbewerben teil und hoffte, daß ihre Demo-Kassette irgendwann einmal auf dem Schreibtisch der richtigen Leute landen würde.
Doch seit die „First Lady of Countrymusic“, Emmylou Harris, für das Album „Wreckless Ball“ eines ihrer Lieder („Orphan Girl“) coverte, geht alles wie im Zeitraffer. Welch bekam einen Plattenvertrag von Almo Sounds, der neuen Firma von Herb Alpert und Jerry Moss, die kurz zuvor ihr A&M- Label an Polygram verkauft hatten. Mit T-Bone Burnett wurde für das Debütalbum ein Produzent von Rang gewonnen, der mit Fingerspitzengefühl und einer Mannschaft exzellenter Studiomusiker (u.a. Jim Keltner und James Burton) die Songs von Welch so einfühlsam inszenierte, daß ihre Stärken noch deutlicher hervortraten.
Im Frühjahr in den USA veröffentlicht, avancierte die Platte innerhalb kürzester Zeit zum Insidertip und fand Beachtung weit über die Grenzen der Countrymusik hinaus. Im Tourbus der amerikanischen Rockband Garbage lief die Platte ohne Unterbrechung. Auch sparte die Presse nicht mit Lob. Einige Kritiker bescheinigten der Platte sogar Robert-Johnson- Qualitäten“ und meinten, „Revival“ habe das Zeug, zur Wiederbelebung des gesamten Genres beizutragen, das seit längerem im seichten Wasser des „New Country“ vor sich hin dümpelt.
Obwohl in Kalifornien geboren, wo die Eltern als Komponisten für Fernsehshows tätig waren, liegen Welchs musikalische Wurzeln anderswo. Sie betrachtet sich als „amerikanische Primitive“, die tief aus dem „alten Klang des Südens“ schöpft. Für die 28jährige Singer/ Songwriterin gilt die Bergwelt der südlichen Appalachen als magischer Ort, wo im letzten Jahrhundert unter den englischen, schottischen und irischen Siedlern die Urmusik des weißen Amerikas entstand. Die Lieder der Hillbillies, wie die „Hinterwäldler“ aus Kentucky, Tennessee, Virginia und North Carolina abschätzig genannt wurden, waren so karg wie der Ackerboden in den Bergen, beschränkten sich in der Form auf das Notwendigste, während sie Honig aus herzzerreißenden Melodien saugten, deren Worte vom Wesentlichen des Lebens erzählten. „Ich höre mir selten Musik an, die nach 1960 entstand“, beschreibt sie ihre Vorliebe für die Klassiker, was T-Bone Burnett veranlaßte, für die Aufnahmesession mit ihr das ehemalige Studioequipment von Hank Williams zu mieten, um dem Sound der Originale möglichst nahe zu kommen.
Mit eindringlicher, leicht näselnder Stimme singt Welch am liebsten von allerletzten Dingen, ihre Geschichten enden meist mit dem Tod. „Es ist eine naheliegende Option, die Hauptperson in der letzten Strophe eines Lieds sterben zu lassen, um den Song zu einem runden Abschluß zu bringen“, versucht sie den Aspekt von der handwerklichen Seite her zu erklären, um gleichzeitig auf die Sogkraft der traditionellen Inhalte zu verweisen. „Es ist kaum möglich, einen Bluegrass-Song zu schreiben, wo am Ende nicht jemand stirbt.
Die Lieder der dreißiger und vierziger Jahre sind voll von Leichen, Särgen, Grabsteinen und Friedhöfen, weil früher der Tod viel präsenter war als heute. Wenn man alten Leuten drei Minuten Zeit gibt, um über ihr Leben zu erzählen, kommen dabei sicher ein oder zwei Todesfälle vor. Dagegen scheint sich die Popmusik immer weniger um die Nachtseite der menschlichen Existenz zu kümmern. Sie wird übertüncht und verdeckt. Das behagt mir nicht. Ich möchte keine Lieder übers Gemüseeinkaufen schreiben. Selbstverständlich singen wir auch humorvolle Lieder, doch nicht allzu oft, weil sie dadurch ihren Witz verlieren. Traurige Lieder sind immer traurig, witzige Lieder höchstens zweimal im Monat.“
In der detailgenauen Beschreibung von Einzelschicksalen, die sie unaufdringlich vor dem jeweiligen sozialen Hintergrund skizziert, führt Welch eine spezielle amerikanische Songtradition fort, die mit dem Namen von Woodie Guthrie verbunden ist. Ihr Song „One more Dollar“ zeigt Ähnlichkeiten mit der „Tom Joad“-Ballade des Vaters aller Protestsänger. Beide Male geht es um das Los von Wanderarbeitern, die, von Hoffnung getrieben, in einer Sackgasse des Lebens landen – ohne Job und ohne Geld. „Bei Woodie Guthrie hat man das Gefühl, daß er den Roman ,Früchte des Zorns‘ von John Steinbeck einfach zu einem Lied verarbeitete, was wir nicht machen“, erklärt Gitarrist David Rawlings, musikalischer Partner und Songwriterkompagnon von Welch, den Unterschied. „Unsere Texte basieren stärker auf eigenen Erfahrungen oder Begegnungen, die allerdings verallgemeinerbar sind. So ist es letztlich egal, ob es um die ,Dust Bowl‘-Leute aus Oklahoma geht, die in den dreißiger Jahren von der Dürre vertrieben wurden, oder um mexikanische Einwanderer heute, die vor der Armut nach Kalifornien fliehen. Die Thematik ist universell.“
Im Unterschied zu Guthrie, der eine Politisierung seiner Zuhörer im Auge hatte, finden die Betroffenen in den Songs von Gillian Welch Halt in der Religion, was der Sängerin den Ruf eingebracht hat, eine christliche Fundamentalistin zu sein – ein Image, an dem ihre Plattenfirma fleißig mitstrickt. Ob auf Promotionfotos oder auf der Bühne – stets trägt sie ein schlichtes, hochgeknöpftes Kostüm im Stil einer puritanischen Straßenpredigerin, obwohl sie beim Interview mit Jeans, Pferdeschwanz und Brille eher als typisch amerikanisches Collegegirl erscheint.
„Ich bin weit mehr von religiöser Musik beeinflußt als von Religion“, rückt sie die Dinge zurecht. „Bisher habe ich in meinem Leben noch nicht viel Zeit in der Kirche verbracht, aber Stunden um Stunden vor dem Radio, um Gospelmusik zu hören.“ Vom „Shape Note“-Singen des tiefen Südens über die weißen Bluegrass-Gospels der Stanley Brothers oder der Louvin Brothers bis hin zu schwarzen Spirituals von Leuten wie Sister Rosetta Tharpe und Reverend Gary Davis reicht die Bandbreite an religiöser Musik, von der sie sich inspirieren läßt und die – laut Alan Lomax – vor dem Zweiten Weltkrieg noch die Hälfte der gesamten amerikanischen Populärmusik ausmachte. Ein Lied wie „By the marks where the nails have been“ von Gillian Welch kann bis in die Wortwahl hinein als modernes Äquivalent der alten Hillbilly- Hymne „I shall know by the print of the nails“ von Emry Arthur gelten.
Trotz ihres Faibles für „Old- Time Music“ ist Gillian Welch im Gegensatz zu den meisten ihrer Vorbilder eine Songwriterin modernen Typs. Ihr Handwerk hat sie nicht auf der Straße gelernt, wie das früher üblich war, sondern auf der Universität. Nach Abschluß eines Fotografiestudiums beschloß sie Ende der achtziger Jahre, mit ihrem musikalischen Hobby ernst zu machen, und schrieb sich im Seminar für „Songwriting“ an der Berkeley School of Music in Boston/Massachusetts ein. „Das war äußerst hilfreich, weil es mein Gespür für Klischees schärfte. Einer meiner besten Lehrer vertrat die Meinung, daß man mit einem Song dann auf dem richtigen Weg ist, wenn man anfängt, diejenigen Teile herauszustreichen, die einem besonders gelungen erscheinen. Erst allmählich verstand ich, was er meinte. Lieder sind sehr kleine Packungen, die man leicht überladen kann.“
Gillian Welch: „Revival“ (Almo Sounds ALMCC 011)
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