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Lieber leicht und elegant

■ Warum sich soziale Bewegungen mit der Systemtheorie schwertun. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann über den Kampf der Kulturen, Kommunitarismus und heiteres Kino nach Wohnungsumzügen

taz: Die Systemtheorie scheint eine seltsame Karriere zu machen: vom Schattendasein an den Rändern der Soziologie, über etwas wie Philosophie, ist sie mittlerweile fast zu einer Art Lebenshilfe avanciert. Man konsultiert Sie, wenn es um Unternehmenskultur, um Fundamentalismus, um Kunst und Nichtkunst, um Medien und sogar um Liebe geht. Wie erklären Sie sich diesen unaufhaltsamen Aufstieg?

Niklas Luhmann: Letztlich ist die Erklärung schlicht, daß es sich um eine Gesellschaftstheorie handelt, die eben alle Bereiche der Gesellschaft abdecken muß – was es in der modernen Soziologie nach Parsons eigentlich nirgends mehr gibt. Das ist erstaunlicherweise ein Markt, auf dem man nicht viel Konkurrenz hat, obwohl viele für sich reklamieren, allgemeine soziologische Theorien zu liefern. Wahrscheinlich erinnert auch der Abstraktionsgrad der Begriffe – Form, Unterscheidung, Beobachtung, System/Umwelt – an Philosophie. Ich finde eben, daß es von einer Gesellschaftstheorie aus möglich sein muß, alles zu behandeln, was in einer Gesellschaft passiert, Umweltfragen zum Beispiel.

Was die Lebenshilfe betrifft: Es fragt sich natürlich, ob eine soziale Bewegung oder ein anderer beschriebener Teilbereich der Gesellschaft sich wirklich mit dieser Art der Beschreibung vertraut machen kann; ob zum Beispiel die Frauenbewegung nicht ihre eigene Motivgrundlage zerstören würde, wenn sie die Theorie übernähme, so wie die Theologen ihre Motivlage zerstören würden, wenn sie eine systemtheoretische Betrachtung und nicht die Religion für ihre Selbstbeschreibung verwenden würden. Entscheidend ist, daß man nicht mehr auf Antikonzepte wie „bürgerliche Gesellschaft“ angewiesen ist, die mit der Wirklichkeit offensichtlich nicht viel zu tun haben.

Auf die Annäherung an die Philosophie komme ich auch deshalb, weil Sie immer gegen Habermas und seine Vorstellungen von einem durch Kommunikation zu erzielenden, universell moralischen Konsens ausgespielt werden als jemand, der Konflikte für die eigentlichen Motoren der Kommunikation hält.

Die ganze Rechtsgeschichte bewegt sich auf diese Weise vorwärts: Erst die Konflikte produzieren die Normen, nach denen sie geregelt werden. Das ist ein altes Thema der Soziologie, das schon bei Durkheim eine Rolle spielte, auch dort ist der colère publique, die öffentliche Wut sozusagen der Anlaß für Normbildung. So funktioniert auch die internationale Politik. Menschenrechtsbewegungen werden durch Verstöße darauf aufmerksam, daß es eine Norm geben müßte oder schon eine gibt, die man stärken muß. Und das ist sicherlich ein Punkt, der Systemtheorie und die Theorie kommunikativen Handelns trennt. Kommunikation hat ein Zeitproblem zu lösen: je komplexer das Gesellschaftssystem, desto mehr muß es jeden Tag Irritation in Information überführen. Es wäre viel zu riskant, das von einem vorab gesicherten Konsens abhängig machen zu wollen. Es müssen immer wieder Wegmarken innerhalb der Kommunikation entstehen, an denen man zustimmen oder ablehnen kann. Dabei kommt den Massenmedien die Aufgabe zu, Themen zu bündeln, die für diese Ja-Nein- Optionen offen sind.

Welchen Sinn hat in diesem Zusammenhang zum Beispiel das ständige warnende Rekurrieren auf die deutsche Vergangenheit, mit dem sich manche Wochenzeitschriften besonders hervortun? Da gibt es doch nichts zuzustimmen oder abzulehnen?

Ich denke, daß jede theoretische oder philosophische Bewegung eine Neubeschreibung der Vergangenheit produzieren muß, genau wie die atonale Musik die tonale Musik erst als etwas definiert, was besonders ist. Aber ich glaube nicht, daß das auch auf nationaler Ebene gilt. Die ganze Welt wird im Moment verpflichtet, Nationalstaaten zu produzieren, ob einem das paßt oder nicht paßt. Man hat es in Jugoslawien oder Somalia gesehen. Und da ist die aus der Vergangenheit kommende Form des Nationalen wichtig. Man muß einerseits die Kontinuität dieser Form sehen, und sie andererseits aber auch neu beschreiben.

Würden Sie denn sagen, daß Beschreibungen wie die des amerikanischen Politologen Samuel Huntington auf diese Lage zutreffen, der einen kriegerischen Zusammenprall der Kulturen auf uns zu kommen sieht?

Nicht zwingend, aber es kann durchaus sein. Im Zuge dieser globalen Neuformierung wird es Gesellschaften geben, die auf dem traditionellen Modell von Nationen beharren, und solche, die eher das Modell von Weltgesellschaft betonen.

Eine andere Form, auf globale Krisen zu reagieren, sind die mit dem Kommunitarismus verbundenen Vorstellungen des lokalen Handelns und Denkens. Halten Sie das für eine gute Idee?

Nein, überhaupt nicht. Es ist erklärbar, wenn man die Belastung sieht, die dadurch entsteht, daß man immer von ungreifbaren Mächten abhängig ist. Da möchte man sich in ein vertrautes Milieu zurückziehen.

Aber im 19. Jahrhundert gab es das Thema Gesellschaft und Gemeinschaft auch schon. Der Kommunitarismus hat darüber hinaus auch die aristotelischen Traditionsbezüge und die kleine, noch regierbare Stadt ins Feld geführt, die man auch bei Rousseau und seinem Genf findet. Aber ich sehe die Realität nicht, die da wachsen könnte. Allein schon wegen des Geldmechanismus oder wegen der Arbeit, die man nicht immer in seiner kleinen Gemeinschaft mehr findet.

Apropos vertrautes Milieu. Viele der Konflikte, die im Moment in den Medien behandelt werden, kreisen um das Thema Familie: sexueller Mißbrauch, künstliche Befruchtung, Kinderprostitution, Gewalt in der Ehe – wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Ich glaube, daß die Politik und die Massenmedien zwei Auswahlpräferenzen haben für ihre Themen: einerseits die Organisationen, andererseits die Intimsphäre, also das Individuum mit seinen täglichen Problemen und Nöten. Eines der Themen, die dabei in den Vordergrund rücken, ist, daß auch in den intimen Beziehungen die Ansprüche auf Selbstverwirklichung gewachsen sind. Wenn es aber in einer Familie zwei oder mehr Selbstverwirklichungen gibt (lacht), wird es schwierig!

Dem Feminismus prophezeien Sie, mit seinem Festhalten an der Differenz zwischen Mann und Frau entweder lächerlich oder gefährlich zu werden.

Das Problem liegt meines Erachtens darin, daß der Unterschied der Geschlechter einerseits forciert und andererseits abgebaut werden soll. Das führt zu der Vorstellung, daß Frauen anders empfinden, anders schreiben und so weiter, während andere Behauptungen schlichte Karrierepolitik sind.

Aber diese Konflikte stellen nur einen Teil der Probleme, die mit der Intimsphäre zusammenhängen. Es gibt die generelle Tendenz, daß das Individuum sich selbst realisieren will, eigentlich schon seit dem 18. Jahrhundert. Seither haben die Familien ihre staatstragende Bedeutung verloren, die gesellschaftsstrukturellen Gründe für eine Kontrolle der Eheschließungen fielen weg, also war der Weg frei, von arrangierten Ehen zu Liebesheiraten überzugehen. Die Differenz der Geschlechter verringert sich, zuerst, indem ihre Motive, zu heiraten, einander ähnlicher werden, später auch in vielen anderen Beziehungen.

Es reicht nicht, die zunehmende Individualisierung zur Ursache aller Probleme zu erklären, die in der Intimsphäre auftreten. Sie entstehen doch eher daraus, daß diese Individualisierung und der sich aus ihr ergebende Bedarf nach einer verständlichen, vertrauten Nahwelt nicht immer parallel laufen: Gerade diese Nahwelt läßt dem einzelnen weniger Spielraum als politisch oder rechtlich fixierte Makrostrukturen.

Diesem irritierten Individuum dient die Unterhaltungsindustrie, so schrieben Sie in Ihrem vorletzten Buch über die Realität der Massenmedien, zu Probeläufen seiner Selbstentwürfe. Insgesamt klingt das Kapitel aber etwas dürr im Gegensatz zu der Fülle an Material, die sie zum Thema Nachrichten oder Werbung zusammengetragen haben. Sehen Sie Soap- operas im Fernsehen?

Nein, ich besitze überhaupt keinen Fernseher. Gute Filme sind unter Umständen etwas für mich.

Welche denn beispielsweise?

Eigentlich eher solche, die nicht so problematisch sind. Lieber leicht, elegant und witzig: „Ein Herz und eine Krone“ mit Audrey Hepburn und Gregory Peck zum Beispiel. Aber ich gehe selten ins Kino, eigentlich nur, wenn wir umziehen und die Elektrizität noch nicht angeschaltet ist. Interview: Mariam Niroumand

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