■ Welt Weit Grönling: Surfen mit Rettungsring
Internet über Online-Dienste, das ist wie Surfen mit einem Rettungsring um den Bauch. Oder, wie es ein Kollege formulierte, wie Radfahren mit Stützrädern. Alles schön sicher und wohlbehütet, aber so richtig flott will es einfach nicht werden. Ob CompuServe, AOL oder T-Online – es ist überall das gleiche. Um eine Verbindung herzustellen, muß zuerst das Hausprogramm des jeweiligen Dienstes geladen werden. Es geht zwar auch einfacher, aber das ist den Usern mit dem gesunden Halbwissen vorbehalten.
Erst dann kann der Browser aktiv werden. Und die halbe Nation muß zu Weihnachten mit Modems, ISDN-Karten oder sogenannten Startpaketen beglückt worden sein, die jetzt nach und nach anfangen zu funktionieren. Seit Anfang Januar ist es beim Berliner CompuServe- Knoten zu bestimmten Uhrzeiten beinahe unmöglich, eine Verbindung zu bekommen. Besetzt. Wenn es ausnahmsweise mal klappt, dann ist die E-Mail nicht erreichbar, oder jedes Bit tröpfelt einzeln durch die Leitung. Selbst mit ISDN ist das nicht anders, die theoretisch möglichen 64 Kilobit pro Sekunde bleiben Wunschdenken. So etwas passiert, wenn alle zur gleichen Zeit anrufen – und täglich kommen neue hinzu.
Bei AOL soll es auch nicht besser sein. In Amerika wurde das Unternehmen schon auf Einhaltung des Werbeversprechens „Unbeschränkter Zugang“ von einer Kundengemeinschaft auf 20 Millionen Dollar Schadensersatz verklagt. Nun will AOL 250 Millionen Dollar investieren, um die Kapazitäten auszubauen. Einen kleinen Teil der Summe will es sich von dem jugendlichen Hacker Nicholas Ryan zurückholen. Dieser hatte unter dem Namen „Happy Hardcore“ das Programm „AOL 4free“ gebastelt, das beliebig viele Accounts mit jeweils zehn Freistunden generieren konnte. Ryan muß wahrscheinlich mit 250.000 Dollar Buße oder fünf Jahren Knast rechnen. Das ist hart, für einfachen Totschlag gibt es weniger.
Bleibt noch die Arbeitsgemeinschaft Telekomik (Telekom AG). Die ausgelagerte „Online Pro Dienste GmbH&Co.KG“ hat mir per Mail mitgeteilt, daß sie die Januarabrechnung nicht schaffen und die angefallenen Gebühren auf die Februarrechnung setzen wollen. Ich schöpfe leise Hoffnung: Vielleicht schaffen sie auch das nicht und vergessen mich am Ende völlig. Wundern würde mich das nicht, und ich könnte, wenn auch im Schneckentempo und mit T-Rettungsring, kostenlos per ISDN in der Welt herumsurfen. Aber so ein Glück haben immer nur andere. Dieter Grönling
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