Höllenfahrt als Glanzstück

■ Holger Schultze wiederbelebte das O'Neill-Drama „Reise in die Nacht“

„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ ist Eugene O'Neills Höllenfahrt in die Kindheit, in die eigene Familie, die er so schonungslos offen auf die Bühne stellt, daß er eine Veröffentlichung erst 25 Jahre nach seinem Tod gestattete. Nachdem aber Eugenes Familienangehörige lange vor ihm gestorben waren, setzte sich O'Neills Frau Carlotta über das Verbot hinweg. 1955 wurde die „Reise“ uraufgeführt, und O'Neill erhielt postum seinen dritten Pulitzerpreis. Vier Jahrzehnte später inszeniert der Regisseur Holger Schultze dieses Stück in Bremerhaven, und er muß beweisen, daß es sich nicht um ein angestaubtes amerikanisches „Psychodrama“ oder um eine epigonale Variante auf Ibsen und Strindberg handelt, sondern um ein Spiel, das noch heute glänzt und strahlt.

Angesichts der pointenheischenden Gegenwarts-Dramatik ist es ein geradezu wagemutiges Unterfangen, diesen düsteren, traurigen Familienblues auf die Bühne zu stellen – ein Stück, in dem kaum etwas passiert, in dem die Mitglieder der Famile Tyrone ihre Enttäuschungen, Haßgefühle, Sehnsüchte, Schmerzen und Lebenslügen unter einem Strom von Gerede verbergen, bis zum Schluß Mutter Mary endgültig die Balance verliert und aus der Rolle fällt.

Mary (Christel Leuner) ist die heimliche Hauptfigur, um die die drei Männer der Familie kreisen. Sie kommt von einer Kur nach Hause, aber sehr bald wird sichtbar, daß sie von ihrer jahrzehntelangen Morphiumsucht nicht geheilt ist. Während sie die Krankheit permanent leugnet, entlarvt das Familientreffen auch die Männer: Der tyrannische Vater Tyrone (Gerd Staiger), ein gescheiterter Schauspieler, ist ebenso wie sein ältester Sohn Jamie (Guido Fuchs) Alkoholiker; bei dem jüngeren Edmund (Wolfram Rupperti) diagnostiziert der Arzt die lebensgefährliche Schwindsucht. Vier lange Akte – vom frühen Vormittag bis spät in die Nacht – kreisen die Gespräche um die Schuld und die Anfänge der grenzenlosen Verstrickung, während die Männer allmählich in die Trunkenheit fallen und sich mit Zitaten von Shakespeare und anderen Literatur-Größen am Leben erhalten.

Holger Schultze entfaltet das Drama schrittweise und leise als unterirdischen Sog, den die Täuschungen und Masken mühsam kaschieren. So bleibt das dreistündige Spiel bis auf wenige kurze Gewaltausbrüche angenehm minimalistisch-dezent, und es bleibt Christel Leuner vorbehalten, mit sparsamen Gesten und auf einem wunderbar abwesenden Gesicht die Verstörtheit der Süchtigen und den Schrecken der Situation zu zeigen. Wie sie die herbe, bittersüße, am Leben und ihren Träumen gescheiterte Frau spielt, ist sie es vor allem, die diese Inszenierung sehenswert macht. Der engherzig-geizige Vater Tyrone des Gerd Staiger gerät dagegen leicht hölzern; er bleibt zu blaß in seiner stets ruppigen und knorrigen Alter-Mann-Haltung. Mehr Farben entwickeln die beiden in Haßliebe miteinander verbundenen Söhne, die zwar unnötig deutlich als zwei wilde irische Rotschöpfe aufgemacht sind, aber in ihrem Spiel alles Chargieren vermeiden.

Mit „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ inszeniert Holger Schultze eine Erinnerung: An das, was das Theater einmal werden sollte, bevor es sich dem allgemeinen Unterhaltungs- und Zerstreuungswahn anschloß. Und daran, daß es natürlich noch immer zeigen kann, was O'Neill ihm abverlangt: „Das Leben als ein großartig ironisches, herrlich indifferentes, gewaltig leidvolles Stück Chaos“.

Hans Happel

Aufführungen am 31.1., 7. und 13.2. im Stadttheater Bremerhaven