■ Vorschlag: Gelassene Blicke: Sibirische Alltagsbilder des Fotografen Fred Mayer im Museum für Völkerkunde
Etwas reißerisch wirkt der Titel schon. Dabei soll gerade mit der Ausstellung „Vergessene Völker des Wilden Ostens“ im Museum für Völkerkunde in Dahlem ein Klischee vermieden werden: die Be- und Verurteilung all dessen, was nicht dem Westen entspricht. Tatsächlich fehlt das reißerische Element den Schwarzweißaufnahmen des Schweizer Fotografen Fred Mayer. Die von ihm Portraitierten blicken gelassen und selbstbewußt, die Hände in den Taschen vergraben oder mit den Daumen im Gürtel verankert. 27 ungewohnt nah herangerückte Gesichter von sibirischen Männern und Frauen hat Fred Mayer aufgenommen: Jäger in dicken Felljacken, Fischer in Lederanoraks oder Rentierzüchter mit Fangseil, dazu Studenten und Kinotechniker. Die Bilder entstanden mit einer 6x4-Mamiya- Kamera und wurden im größtmöglichen Format abgezogen. So ist man in Dahlem von überlebensgroßen Figuren umgeben.
Die abgebildeten Menschen gehören kleinen ethnischen Familien Ostsibiriens an, den Tschuktschen, Itelmenen, Nanai, Ainu oder Korjaken. Auge in Auge mit dem Betrachter, sehen die Portraitierten immer direkt in die Kamera. Mit Hilfe eines kleinen Schirms läßt der Fotograf das Nordlicht auf der Iris seiner Gegenüber reflektieren. Ihre Waffen beeindrucken daher weit weniger als der Blick, in dem ungeheure Willensstärke liegt, wie etwa bei Jakolev Egor Fjodorovich, einem 63jährigen evenkischen Jäger, dem das Gewehr um die Schultern hängt und der Jagddolch im Gürtel steckt. Anders dagegen sind Mayers Kleinbildmotive: Reportagefotos vom sibirischen Alltag in knalligen Farben, blutrote Fleischberge erlegter Walfische, Landschaften in den dezenten Grautönen der winterlichen Tundra. Die Farbbilder stellen einen scharfen Kontrast zu den vor weißer Leinwand fotografierten, nur vom Nordlicht gezeichneten Portraits dar und versetzen sie wieder zurück in ihre Umwelt.
Die Großaufnahmen entstehen auf der Straße, auf dem Weg zur Arbeit, von der Arbeit. Fred Mayer versteht sich als Dokumentarist, nicht als Künstler oder Ethnograph. Bereits seit 1956 macht der Schweizer Reportagen in der UdSSR, damals zum russischen Raumfahrtprogramm. Seine Portraits bestechen durch einen direkten und ungekünstelten Zugang: „Wir sind hier“ ist die Botschaft, die Fred Mayer in seinen Bildern festhält. Er will damit auch auf die bedrohliche Lage der sibirischen Völker aufmerksam machen. Bittbriefe und Appelle gegen das Vergessen hat er haufenweise in der Tasche. „Sie wollen, daß man weiß, daß es sie gibt.“
Der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist mit dieser Ausstellung ein Coup gelungen, der zudem von der Schweiz finanziert wurde. Dafür hat man in Dahlem einen eigenen Beitrag hinzugefügt: Zum zweiten Mal seit Kriegsende zeigt das Museum Objekte seiner in Europa einmaligen Sibiriensammlung. Raphaela von Weichs
„Vergessene Völker im Wilden Osten. Sibirien“, bis 31.3., Di.-Fr. 9-17, Sa./So. 10-17 Uhr, Lansstraße 8, Dahlem
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