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Die Attentäterin

Am 4. Juni 1968 schoß Valerie Solanas auf Andy Warhol. Doch warum sollte eine Lesbe einen Schwulen töten wollen? Regisseurin Mary Harron sucht in ihrem Film „I Shot Andy Warhol“ nach einer Antwort  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Wenn Andy Warhol am New York Hospital vorbeifuhr, drehte er den Kopf weg und sah zur anderen Straßenseite hin. Als seine Mutter starb, erschien er nicht zur Beerdigung. Und als ein Mitarbeiter der Factory tagelang roten und schwarzen Urin pinkelte, von Schmerzen gequält, gab Warhol ihm den guten Rat, sich vorzustellen, er wäre in einem Film.

Als Andy Warhol am 4. Juni 1968 im Cabrini Medical Center für Momente wieder zu Bewußtsein kam, drangen Fetzen von Radionachrichten an sein Ohr, die vom Attentat auf Kennedy handelten. Warhol berichtete später, er habe sich als Sterbenden imaginiert, der in der Zeit rückwärts reist. Tatsächlich handelte es sich nicht um ein Playback aus dem Jenseits vom Attentat auf JFK, sondern um Berichte vom Attentat auf dessen Bruder Robert Kennedy, das einen Tag nach dem Attentat auf Warhol folgte und Warhol von den Titelseiten der Zeitungen verdrängen sollte. Robert Kennedy brauchte zwei Tage, um zu sterben, während Andy Warhol noch fast zwei Jahrzehnte vor sich hatte. Mit dem Nimbus des Unbesiegbaren kassierte er die Lorbeeren seines seltsamen Schaffens.

Der Mordversuch an Warhol hat wenig zu tun mit einem Verschwörungsattentat – wie auf JFK und auf Palme – und ist auch nur entfernt verwandt mit dem Mord an John Lennon. Das Attentat von Valerie Solanas auf Warhol ist ein typischer Akt des großen Showdowns am Ende der Sechziger, eine Implosion im Gegensystem, im Gefüge der Subkultur, die vor die Wahl gestellt war, sich selbst zu zerstören oder den Mainstream zu okkupieren. Solanas dachte eher an die erste Lösung. Warhol entschied sich für die zweite.

„I Shot Andy Warhol“ – etwas merkwürdig, an der Kinokasse so etwas zu sagen – zeichnet das Bildnis der Attentäterin als Feministin recht überzeugend: Eine kerlige Lesbe mit Hochwasserjeans und Ballonmütze, die, melancholisch in sich hineinlächelnd, ihre sarkastischen Sprüche aufsagt, die sie selbst für den Kern einer Theorie hält. Sie hat den federnden Hospitalismus der Straßenkids, die Augenringe und die schnelle Sprache derer, denen sowieso niemals jemand zugehört hat. Lili Taylor (in Altmans „Prêt-à-porter“ spielte sie eine omnipräsente lesbische Fotografin) gibt dieser Figur, über ihren Hyperaktivismus hinaus, ein gewisses ironisches Temperament. Vor allem sieht die Schauspielerin Taylor besser aus als die pferdegesichtige Solanas. So baut man Sympathien. Im Laufe der Erzählung, die mit der Schlußszene des Attentats einsetzt, werden diese Sympathien wieder abgebaut. Wie Solanas unter Strom kommt, ist wenig mitreißend anzusehen.

Dafür fehlt eben die Dynamik der Gruppe – der sie nicht angehört, denn die Gruppe (ja sogar die Gruppe) ist die Factory, ein Produktions-, PR- und Amusementtheater, das Warhol 1964 erfindet. Er hat sich dieses gigantische Loft in der 47. Straße gemietet, ein Künstleratelier, das er offenhält für eine exzentrische Szene von Schwulen. Es ist ein paar Jahre vor Stonewall, erscheint aber im nachhinein wie eine Vorwegnahme der libertären Lebenswelt, die aus der Revolte sprießte. Die Frage, wie Warhol es schaffen konnte, sich so viele Leute gefügig zu machen, ist für die engere Gruppe nicht so schwer zu beantworten: Bestimmte schwule Lebensmuster fügen sich leicht in die Rollen von eifrigen Hausmeistern, treuen Laboranten, großzügigen Müttern und schrillen Darstellern großer Diven (die Rollen zu wechseln war vorgesehen). Etwas rätselhafter ist, wie es Warhol gelang, in einem vor Eifersucht brizzelnden Tuntenklima eine ganze Phalanx gutaussehender heterosexueller Frauen zutiefst an sich zu binden, die er als rich girls bewunderte und als little rich girls verarschte. So konnte er sich in Gesellschaft mondäner Frauen zeigen, während die Tuntenfabrik die Infrastruktur sicherstellte.

Wie Warhols Sexualität wirklich verfaßt war, ist schon früh ein Paradethema der Factory gewesen. Das ist wichtig, um Solanas' Motivation für das Attentat zu verstehen. Denn: Warum sollte eine Lesbe einen Schwulen erschießen wollen?

In einem Buch von John Wilcock, das 1971 erschien, wird einer der frühen Szenebekannten von Warhol befragt, Charles Henri Ford:

Wilcock: Was, glaubst du, macht ihn am meisten an?

Ford: Sex-Appeal

W: Sein eigener oder der von anderen?

F: Von anderen.

W: Was, glaubst du, zieht ihn am meisten an? Welcher Typ?

F: Na ja, Jungen.

W: Also, welcher Charakterzug einer Person würde Andy am meisten anziehen?

F: Alles, was delinquent und pervers ist.

W: Was für geschlechtliche Beziehungen hat er, dauerhafte?

F: Er ist darin sehr visuell, also alles ist sexuell für ihn, ohne daß Sex tatsächlich stattfindet.

W: Erzähl mir etwas über die Sachen, die Gerüchte und den Klatsch, den du über Andys sexuelle Verhältnisse gehört hast.

F: Das ist alles.

W: Oh, das war's?

F: Daß er nicht angefaßt werden will.

W: Er nimmt alles entgegen, unglaublich und endlos. Aber nicht einmal die Hand will er geschüttelt haben.

F: Na ja, einen Schwanz würde er wohl auch in den Mund nehmen. Das ist auch entgegennehmen. Mehr habe ich über ihn nicht gehört, was sein Geschlechtsleben betrifft.

Der Mann, der niemals der Aktive sein würde: Das war also Warhol. Ein Zyniker im Hintergrund, der zentrale Mann der Ambivalenzen, die Membran für alle möglichen Begierden. Warhol nahm sie auf, als stille Kultfigur, als Übervater einer Familie, die der Kunstkritiker Gary Indiana die „Kirche des Unvorstellbaren Penis“ genannt hat.

Was Valerie Solanas dachte – oder zu denken vergaß –, ist in ihrem S.C.U.M.-Manifest zu lesen, das sie in hektographierter Form im Village anbot und das erst nach dem Attentat auf Warhol verlegt wurde. S.C.U.M., der Abschaum, ist bei Solanas das Kürzel einer „Society for Cutting Up Men“, worin ihr schwer sadistischer Humor sich schon andeutet. Es ist, letztlich, ein ins Proklamative gewendetes Selbstporträt einer Frau, die im engen, giftigen Klima des Nachkriegsamerika heranwuchs (Solanas ist 1936 in New Jersey geboren) – ihr Haß gegen den kulturellen und ideologischen Drill des „Daddies“ erinnert an Sylvia Plath. Männer skizziert Solanas, in immer wieder frappierenden Varianten, als hohle, sexgeile Ekel, die eigentlich gern Frauen wären. Frauen aber schildert sie als völlig verblödete Subspezies einer Gesellschaft, „Wärmflaschen mit Titten“, die sich wie „Tiere“ immer wieder in den Kreislauf der Reproduktion schubsen lassen. Als Psychologin (mit Examen) hat sie von Sublimation schon mal etwas gehört: Weshalb die Kunst ein gemeiner Trick von Männern ist, ihre Misere zu verdecken; diese Kunst ist degenerated, was übrigens das englische Wort für „entartet“ ist.

Wenn es irgendeine Hoffnung für Frauen gäbe, dann wäre dies, ganz genauso zu sein wie Valerie Solanas: grobe „Geschöpfe, die das Ficken aufs Ficken reduzieren [...], die unter ,Kultur' Brathähnchen verstehen [...], die auf schmutzigen, abstoßenden Szenen zu Haus sind, jene haßerfüllten, gewalttätigen Huren [...], die einem Mann, kaum sehen sie ihn, einen Knüppel durch die Brust jagen oder einen Eispickel in den Arsch rammen möchten – wenn sie nur sicher wären, daß das etwas nützt“.

Solanas war zu diesem Zeitpunkt schon im Bannkreis der Factory angelandet, und ihr verätztes Psychogramm der US-Gesellschaft ist stark eingefärbt von der Factory, die sie magisch anziehen mußte, weil sie die Rahmendaten des Gehabten und des Utopischen absteckten: Fabrik und Familie, echte und falsche Queens, Warenfrömmigkeit und Obszönität. Wenn es wahr wäre, was sie glaubte – daß Männer eigentlich Frauen sein möchten – hatte sie in Warhol ein gutes Beispiel. Er nahm den Frauen, die ihn suchten, ihre Bilder ab: der fetten Brigid Polk ihren von Speed angeheizten Exhibitionismus; Edie Sedgwick ihre in Perfektion gehüllte Ratlosigkeit; Nico ihren coolen Glamour. Warhol nahm das in sich auf und gab es den Darstellerinnen seines divenhaften Selbst als „Konzept“ zurück. Von der typischen Transformation der Factory – ein tritt das Leben, aus tritt Kultur – konnte Solanas nur ein einziges Mal profitieren: mit ihrem Auftritt in einem von Warhols berühmten ungeschnittenen Filmen: „I, a Man“ – ausgerechnet! In diesem Fall funktionierte auch das Prinzip, daß Männer zu zahlen haben, selbst dafür, daß Solanas mit ihnen spricht. Sie bekam von Warhol 25 Dollar für ihren Auftritt.

Warhol, mit seinem Auge für „alles, was delinquent und pervers“ ist, erkannte natürlich Solanas' Qualität. Was ihr letztlich passierte – integriert und wieder ausgestoßen zu werden –, war auch kein ungewöhnliches Schicksal. Alle, die von Warhol dauerhaft mehr wollten, als von seiner Aura zu profitieren, wurden von ihm fallengelassen. Das Attentat eingeschlossen, war letztlich auch für Solanas die Begegnung mit Warhol das wichtigste Ereignis in ihrem Leben; als sie – nach drei Jahren in einer Anstalt – entlassen wurde, verschwand sie in der Masse. Sie starb 1989, zwei Jahre nach Warhol, in einem Obdachlosenasyl in San Francisco. Der Film ignoriert die Restgeschichte dieses Lebens. „I Shot Andy Warhol“ hat seine besten Momente, solange der Film Solanas als Herumtreiberin und Gelegenheitshure im Village zeigt – bevor sie Warhol trifft.

In der zweiten Hälfte steht die silberne Factory im Vordergrund. Das Remake ist gelungen, die Musik mit Hilfe von John Cale weitgehend authentisch. Wer sich das Leben dort nicht vorstellen kann, muß diesen Film sehen. Es gelingt der Regisseurin Mary Harron jedoch nicht, den Mitgliedern der Factory überzeugende Nebenrollen zuzuweisen. Unklar bleibt, worin die Abhängigkeit der Gruppe von Warhol eigentlich besteht. Der Film läuft auf die These hinaus, daß Solanas auf jemanden schoß, der sie nicht lieben wollte. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Solanas auf jemanden schoß, der von allen um sich herum vergöttert wurde. Sie erkannte in ihm den Patriarchen der Perversion, der das Zölibat, von dem sie phantasierte, für sich schon verwirklicht hatte.

Es ist oft gesagt worden, daß das Attentat Warhol verändert habe; er verließ über Jahre die Partys vor Mitternacht. Und seine Kunst – soeben noch schockierend, hart, fremd – war mit einem Mal genau das, was sie sein sollte: eine gutgehende Ware, die sich über Ware lustig macht. Im Februar des Jahres 1968 war Warhol mit der Factory umgezogen, und hatte sich, außer Parkettböden, einen jungen texanischen Geschäftsmann zugelegt, der die Welt der Kunstsammler kannte und Warhol als Star (und nicht als Szenetyp) repräsentierte.

Solanas schwante wohl, daß mittellose Exzentrik an Unterhaltungswert eingebüßt hatte, und suchte das erstbeste Beispiel sozialen Aufstiegs, das ihr in den Sinn kam. Das war aber auch schon die letzte große Idee: In den verbleibenden achtzehn Jahren ihres Lebens, nach der Entlassung, verwaltete sie ihr kleines Frühwerk von der Landstraße aus mit paranoischer Passion (die neue Ausgabe des Manifests im Maro-Verlag bringt einen köstlichen Brief an Verleger Jörg Schröder) – aber geschrieben hat sie nichts mehr. Geschossen auch nicht. Sie war eine von vielen Verlierern Amerikas, die ihre berühmten fünfzehn Minuten gehabt hatten. Der Film von Mary Harron bringt sie zurück.

„I Shot Andy Warhol“. Regie: Mary Harron. Mit Lili Taylor, Jared Harris, David Bowie, Stephen Dorff. Musik John Cale. 106 Minuten, Farbe.

Valerie Solanas: „Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer, S. C. U. M.“. Maro-Verlag Augsburg, 20 DM

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