"Eine Mutter kann auch durchdrehen"

■ "Für immer und immer", Hark Bohms neuer Film, ist ein Thriller über eine Mutter, die im Affekt ihr Neugeborenes tötet. Der Regisseur und Lehrer an der Hamburger Filmakademie über Geschichten, Instanzen

taz: Wie ist das, anderen beizubringen, wie man Filme macht, und dann steht man selbst wieder in der Kritik?

Hark Bohm: Das ist doch eigentlich die Voraussetzung bei allen Berufen. Ich habe mich jetzt lange um Konzept und Aufbau des Aufbaustudiums gekümmert – jetzt schwimme ich wieder im kalten Wasser, und wenn da mal ein Hai vorbeikommt, gehört das dazu.

Sie haben für den Film in amerikanischen Zeitungen recherchiert, wo mehrere ähnliche Fälle gerichtsanhängig sind, haben mit Ärzten und Kriminalisten gesprochen. Der wichtigste Anstoß kam aber von einem Fall in Ihrer Nachbarschaft, denen ihr Pflegekind nach Jahren wieder weggenommen wurde.

Wir haben auch mit Müttern gesprochen, die ihre Kinder weggegeben haben. Und wir haben mit anderen Pflegeeltern und mit Vormundschaftsrichtern gesprochen. Vor allem hat uns eine Psychiaterin geholfen, die über Aggression bei hysterischen Frauen promoviert hat. Die hatte zum Beispiel eine Patientin, die wie Melanie im Film anfing zu hinken, wenn sie unter Druck stand. Aber man muß dazu sagen: Kein Charakter ist prototypisch.

Sie haben mit Ärzten gesprochen, die meinen, daß zumindest der Großteil der Fälle von sogenanntem plötzlichen Kindstod eigentlich Mord oder Totschlag sind.

Nein, das sind Kriminalisten. Natürlich gibt es Ärzte, die sagen, ein Tod ohne jede feststellbare Ursache ist uns immer verdächtig. Meine Spekulation ist, daß es die christlichen Kulturen mit dem Mutter-Maria-Vorbild tabuisiert haben, daß eine Mutter auch durchdrehen kann. Und es gibt schließlich dieses medizinische Phänomen des postnatalen Irreseins. Und wer je ein Kind mit Dreimonatskoliken erlebt hat und wenn die Mütter selbst nicht in der Balance sind und nicht von ihrer Umwelt gehalten werden, kann man sich vorstellen, daß so etwas schon mal passiert. Bei einer Voraufführung des Films in Berlin sind zwei Pflegemütter aufgestanden, die öffentlich von ähnlichen Fällen berichtet haben. Das Grundproblem dieses ganzen Bereichs ist der Konflikt zwischen Artikel 1 und 6 des Grundgesetzes. Zum einen ist das Kind ein Mensch mit dem Recht auf Würde und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Artikel 6 tut aber so, als ob das Kind Eigentum der Erzeuger sei. Das hat etwas mit unserer Nazi-Vergangenheit zu tun: Nie wieder darf es so sein, daß der Staat nicht genehmen Eltern die Kinder wegnimmt. Und aus dieser Bredouille kommen die Fürsorgerichter nicht raus. Aber ich muß dazu sagen, daß wir kein Plädoyer für eine bestimmte Gesetzgebung machen wollten. Der Ehrgeiz war, eine spannende Geschichte zu erzählen.

Wäre es nicht eindringlicher gewesen, den Showdown wegzulassen und statt dessen den für alle Beteiligten entwürdigenden und belastenden Gang durch die Instanzen darzustellen?

Als wir uns entschlossen hatten, den Charakter Melanies im dunkeln zu lassen und nicht mehr groß zu erklären, da hatten wir ein bestimmtes dramaturgisches Muster. In dem Moment war der Thriller geboren. Der, der Zwischentöne hören und sehen will, der kann schon mitkriegen, wo Melanie herkommt und was für Ursachen das hat. Aber die Psychiater sagen auch immer wieder, es gibt Bereiche in der Persönlichkeit, die können wir nicht erklären oder wirklich heilen. Und ich habe das Gefühl, daß wir Linken immer die Augen davor verschließen, daß es – ich verkürze jetzt – nun mal das Böse, das Unerklärliche gibt.

Lili hat den Film notgedrungen schon gesehen; aber finden Sie, daß Kinder in dem Alter diesen Film sehen sollten?

Man weiß ja inzwischen, die antiautoritäre Haltung war oft Konfliktvermeidung. Und wir verbieten unseren Kindern Gewaltfernsehen, weil uns das selbst auch angst macht. Aber hier wollten wir erzählen, daß sich diese psychopathische Mutter selbst zugrunde richtet, und haben nie daran gedacht, einen Kinderfilm zu machen. Und Lili hat den Film auf dem Schoß ihrer Mutter gesehen oder verschiedene Versionen im Schneideraum.

Hatten Sie niemals Angst, Ihre Kinder irgendwie zu beschädigen, indem sie in Ihren Filmen mitspielten und womöglich das Kinderstarsyndrom entwickeln?

Ich habe bei Fassbinder gespielt, mein Bruder Marquard war beim Theater. In unserer Familie war das immer selbstverständlich. Später haben die Kleinen ihren Bruder Uwe auf der Bühne gesehen. Das Eisprinzessinnen-Syndrom kam bei uns gar nicht in Frage.

Im „Spiegel“ haben Sie sich aufgeregt über „die Feministinnen“ und „die linksliberale Kritik“, die den Film vorverurteilen würde.

Ich habe mich über einen und nur einen Aspekt aufgeregt, der merkwürdigerweise plötzlich bei den Linken auftaucht. Und auch bei dieser Voraufführung kam das wieder: Die Kinder sind auch stabilisierende Faktoren für labile Mütter. Und dann kam wirklich von jemandem: „Ja, das geht auch manchmal gut.“ Und da schrei' ich wirklich Scheiße. Es geht manchmal gut, das heißt doch, daß es oft schiefgeht und die Kinder die Opfer sind. Ich würde mich immer für das Kind entscheiden und gegen die Menschen, die das Kind gezeugt und geboren haben. Elternschaft ist etwas, was man sich verdienen muß. Und ich muß hier noch mal betonen: Ich habe allergrößten Respekt vor den Frauen, die die Kraft aufbringen, das wegzugeben, was sie in sich selbst haben wachsen sehen. Aber es gibt eben auch andere, extreme Fälle. Und Geschichten entstehen immer nur aus extremen Fällen.

Mit einem Thriller stehen Sie in der deutschen Komödienlandschaft ziemlich einsam da.

Das halte ich sowieso für eine Riesengefahr. Natürlich fühlt man sich als Produzent und Regisseur momentan einigermaßen sicher, wenn man auf dem Klamottenacker seine Saat sät und seine Ernte einfährt. Gut daran ist, daß der deutsche Zuschauer wieder Vertrauen zu deutschen Filmen gewinnt. Die Frage ist, ob man ihn auch mit einem anderen Gelände vertraut machen kann. Das ist das große Abenteuer. Wir Deutsche lachen uns entweder schlapp, oder wir suhlen uns in Problemen. Der Angelsachse hat seit Shakespeares Zeiten immer „art and entertainment“ gesagt. Interview: Thomas Winkler