: Selbstbewußtsein gelernt
■ 700 Bremer Azubis bekommen Nachhilfe (ABH), damit sie die Prüfungen schaffen
Außenstehende könnten glauben, Marlies Böttjer sei fünf Jahre lang im Kreis gelaufen. Denn heute steht die junge Frau wieder da, wo sie ihre berufliche Karriere 18jährig startete: in den Vermittlungslisten des Bremer Arbeitsamtes, immer noch abhängig von der Mutter und mini-kleinen Zahlungen der Behörde.
Wer Marlies Böttjer aber kennt, weiß, daß sie in den vergangenen Jahren Welten durchquert hat. Zeugnisse von Schulen, Ausbildungsverträge und Berufsabschlüsse sind der Beweis. Daß sie ihre Nah-Ziele erreicht hat, wenn auch manchmal mit Ach und Krach, darauf ist die mittlerweile 24jährige stolz – genau wie ihre Lehrerin Uta Bredull. Die Pädagogin beim Frauen-Erwerbs- und Ausbildungsverein (FEAV) in der Bremer City hat nämlich mitgeholfen – und dabei das Schlimmste verhindert: "Daß ich das alles hinschmeiße“, wie Marlies sagt. Ein halbes Jahr vor der Gesellinnen-Prüfung zur Hauswirtschafterin im letzten Sommer war sie kurz davor. Dabei hatte die ehemalige „Sonderschülerin“, die als „Benachteiligte“ drei Jahre lang vom Arbeitsamt besonders gefördert worden war, schon fast alles herausgeholt, was für sie herauszuholen war.
Beim FEAV, einem vergleichsweise kleinen Bremer Träger für Ausbildungsbegleitende Hilfe (ABH) und überbetriebliche Ausbildung, gehörte Marlies Böttjer aber zum Durchschnitt. Lehrerin Bredull, die ehemaligen Schützlingen wie Marlies auch ein halbes Jahr nach abgeschlossener Lehre immer noch bei Bewerbungsschreiben hilft, sagt nüchtern: „Von unseren Schülerinnen und Schülern kommt niemand aus einem behüteten Elternhaus.“ Was das heißt, berichtet Marlies Böttjer ohne Umschweife und falsche Scham. Als sie klein war, starb der Vater. Die Mutter mühte sich zwar mit der Erziehung. Aber mit der frisch eingeschulten Tochter wurde sie nicht fertig – und das Mädchen nicht mit dem Lesen und Schreiben. Dabei bekam die kleine Marlies den Schock fürs Leben in der ersten Klasse. Nachdem sie beim Vorlesen von der Tafel vor der versammelten Gruppe versagte, begann ihr Spießrutenlauf. „Alle haben mich gehänselt, haha, die ist doch zu dumm zum Lesen.“ Der Stempel saß. Über das Verständnis, das ihr an der „Doofenschule“ entgegengebracht wurde, wohin sie wechselte, war Marlies erleichtert. „Ein Jahr später konnte ich lesen“.
Zehn Jahre später verließ Marlies Böttjer die Sonderschule mit einem Zweier-Zeugnis. Den Wechsel zurück an die Hauptschule hatte sie vorher abgelehnt – „weil ich da wieder auf frühere MitschülerInnen gestoßen wäre.“ Erst nach einem erneuten Tiefflug, diesmal an der Hauswirtschaftsschule, ging sie zur Berufsberatung beim Arbeitsamt. Mit Tips und Nachhilfe kletterte sie die Karriereleiter rauf bis zur Hauswirtschafterin – auf Stellensuche. Daß sie für diesen Abschluß mehr getan hat als andere, hat sie in Bewerbungen aber nie erwähnt. „Vielleicht sollte ich das mal tun“, überlegt sie. Auch Selbstbewußtsein hat sie gelernt. ede
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen