piwik no script img

Die Einreise in die Wirklichkeit: de Jong

„Ich bin in Amsterdam geboren, im August 1942, noch zu Hause. Ich habe einen Bruder, der ist eineinhalb Jahre älter. Als ich etwa ein halbes Jahr alt war, haben meine Eltern einen Fluchtplan gemacht. Sie haben die Kinder bei Bekannten von Bekannten von Bekannten untergebracht und sind nach Belgien abgereist. Mit falschen Papieren. Mit Hilfe einer Fluchtorganisation sind sie sogar noch in der Schweiz gelandet. Aber die schweizerischen Behörden haben sie wieder rausgeworfen. Dann haben sie von Brüssel aus aufs Neue versucht, rauszukommen, diesmal nach Spanien. Aber wahrscheinlich hatte der Plan da schon ein Leck. In der Organisation muß ein Verräter gesessen haben. Sie sind in der Nähe von Toulouse im Zug verhaftet worden und nach Auschwitz geschickt worden. Dort ist meine Mutter gestorben – man weiß nicht genau wann – und mein Vater hat vielleicht noch bis zur Kapitulation gelebt. Aber wir haben keine Zeugen mehr. Mein Bruder und ich sind getrennt worden, weil es sonst zu gefährlich gewesen wäre. Ich bin von Pflegeeltern aufgenommen worden, die kein Kind hatten. Und die haben es ohne Papiere gemacht. Wir sind dann von Den Haag nach Süd-Holland gezogen. Nach dem Krieg gab es – zum Glück – meine Großmutter, die auch in Zeeland wohnte. Die hat mir schon sehr früh die Wahrheit erzählt. Mir ist es nicht so gegangen wie Rozette. Und mein Name ist auch immer mein richtiger Name gewesen. Meine Pflegeeltern hatten immer Angst, daß meine richtigen Eltern zurückommen würden. Und deshalb haben sie beschlossen, mich nicht zu sehr an sich zu binden. Es gab also immer eine Distanz. Diese Distanz ist nicht so gut für mich gewesen. Dort im Süden von Holland war ich der einzige, den es mit so einem Leben gab. Ich habe also gelernt, mit dieser Sache zu leben. Es hat bis zur Konferenz gedauert, bis ich mir erlauben konnte, zu glauben, daß es wirklich meine Geschichte ist, daß ich wirklich dazugehöre, daß es auch andere Kinder gibt, die auch so sind. Daß ich nicht alleine bin, Das war ganz neu. In Amsterdam wußte ich schon, daß es Juden gibt. Und trotzdem: In dieser Gruppe von Besonderheiten war ich nochmal besonders. Das Judentum sagte mir nichts, das Christentum sagte mir nichts. Ich war nur eine Rolle. Für die Einreise dieser Rolle in die Wirklichkeit hat es diese angenommenen Brüder und Schwestern gebraucht.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen