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Immer enger werdende Spielräume

Nach neuen politischen Restriktionen aus Peking und einem drastischen Zuschauerschwund ist das chinesische Kino auf einem historischen Tiefstand angekommen. Auch Regiestars wie Zhang Yimou oder Chen Kaige sind betroffen  ■ Von Tony Ryans

Ein Jahr ist eine lange Zeit im chinesischen Filmgeschäft. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich für chinesische Filmemacher viel verändert. Pekings Ministerium für Radio, Film und Fernsehen hat seine neuen Filmverwaltungsbestimmungen in Kraft gesetzt: ein 64 Paragraphen umfassendes Traktat, das viel Kontrolle, Förderung, Schutzgesetze und noch mehr Kontrolle verspricht, jedoch nichts enthält, was Qualität, Vertrieb, kommerzielle Möglichkeiten oder das Exportpotential chinesischer Filme verbessern könnte. Und es macht auch keinerlei Vorschläge zur Anhebung der heftig sinkenden Zuschauerzahlen in chinesischen Kinos.

Diese neuen Bestimmungen werden wohl weder Produzenten aus Hongkong noch Finanziers aus Taiwan zurückgewinnen, die durch Koproduktionen vielen chinesischen Studios das Überleben ermöglicht haben. Zudem haben sie inzwischen auch andere Probleme. Denn chinesischsprachige Filme haben in Hongkong zur Zeit den niedrigsten Marktanteil seit den 60er Jahren, und das taiwansche Publikum hat sein Interesse am chinesischen Film offenbar vollends eingebüßt.

Dabei schien es vor nur zwei Jahren noch ganz plausibel, daß das chinesische Kino in Kürze die politischen und kulturellen Unterschiede überwinden würde, die die Filmindustrie vor etwa 45 Jahren in drei Stränge gespalten hatte. Ein Film wie Chen Kaiges „Farewell, My Concubine“ („Lebewohl, meine Konkubine“, 1993) war ein Beispiel für einen neuen Weg. Finanziert von Taiwan, produziert in Hongkong, gedreht in China von einem chinesischen Regisseur mit einem Team aus allen drei Gebieten, bewies Chens Film nicht nur, daß die drei unterschiedlichen Stränge des chinesischen Kinos zusammenarbeiten konnten. Sie konnten sogar einen Film machen, der weltweit auf großes Interesse stieß.

Leider scheint ein ähnlicher Erfolg inzwischen wieder für lange Zeit ausgeschlossen – nicht nur, weil Chens Film „Temptress Moon“ bisher die Zuschauerzahlen seines Vorgängers bei weitem nicht erreicht. Vielmehr ist der Spielraum für Koproduktionen zwischen China, Hongkong und Taiwan entschieden enger geworden.

Anfang 1996 wechselte China seine führenden Filmbürokraten aus. Der neue Minister für Radio, Film und Fernsehen heißt jetzt Sun Jiazhen, der neue Stellvertreter mit besonderer Verantwortung für die Filmindustrie Zhao Shi und der neue Direktor des Filmbüros Liu Jianzhong. Die Erwartungen, daß die neuen Besen auch gut fegen sollen, sind sehr deutlich. Man hat sie eingesetzt, damit sie erreichen, was ihren Vorgängern nicht gelang: die Filmindustrie ökonomisch selbständig zu machen. Dabei müssen auch sie sich an die neuen Restriktionen des Propagandabüros halten.

Ding Guangen hat seine Position als lauteste (also einflußreichste) Stimme der Propagandaabteilung durch regelmäßige Reden behauptet, in denen er fordert, daß die Filme „die hehren Ideale und das ausgezeichnete Funktionssystem der Kommunistischen Partei und des Nationalismus“ unterstützen sollen. Diese Reden werden routinemäßig in der „intellektuellen Tageszeitung“ Guangming Ribao abgedruckt. Einige Studios haben daraufhin wieder mit der Produktion von Filmen über „Vorzeigehelden“ begonnen; so feiert etwa der kürzlich fertiggestellte Film „Kong Fansen“ einen eifrigen und selbstlosen Parteifunktionär, der 1994 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ding berief im April letzten Jahres allerdings ein Treffen zur Filmpolitik ein, auf dem er deutlich machte, daß solche Produktionen durchaus nicht gefragt sind. Vielmehr, so erklärte er, wolle man jinping, wörtlich: exquisite Filme. Die Studiodirektoren fragen seitdem immer wieder, was das genau bedeuten könnte – bisher ohne klärende Antwort.

So weiß zwar keiner, was für Filme China produzieren „soll“, aber jedem ist weiterhin allzu klar, mit welchen Filmen die Bürokraten leben können – und mit welchen nicht. Eine kurze Liste ausländischer Filme, die zum legalen Vertrieb auf der Basis von Gewinnbeteiligung 1995 eingekauft wurden, macht das deutlich: drei Actionfilme von Jackie Chan aus Hongkong („Rumble in the Bronx“, „Thunderbolt“ und „Drunken Master II“) sowie ein paar Kostproben hollywoodscher Eskapismen („The Fugitive“, „Forrest Gump“, „Speed“, „Der König der Löwen“). Die offizielle Einfuhrliste für 1996 führt auf: „Toy Story“, „Babe“, „First Knight“, „Waterworld“ und „Jumanji“. Zu den nicht zugelassenen Titeln gehören „Apollo 13“ (zu amerikanisch-triumphalistisch und außerdem an Chinas eigene Fehlschläge auf dem Gebiet der Raumfahrt erinnernd) und „Golden Eye“ (zuviel Sex und Gewalt). Doch diese und Hunderte andere Filme, die kaum eine Chance auf offiziellen Vertrieb haben, erfahren auf illegal produzierten Videos weiteste Verbreitung, meist aus Hongkong kommend, wo sie routinemäßig mit chinesischen Untertiteln versehen werden. Es ist bekannt, daß solche Videos in einigen Regionen Chinas vor zahlendem Publikum in staatlich betriebenen Kleinkinos gezeigt werden.

Die neuen Filmverwaltungsbestimmungen, die seit dem 1. Juli 1996 in Kraft sind, beschränken die Zahl der importierten Filme auf 50 pro Jahr und ihre Vorführquote auf nicht mehr als vier Monate pro Jahr und Kino. Ihre einzige Konzession an Chinas eigene Filmemacher sind die etwas durchschaubarer gewordenen Entscheidungen des Filmbüros. Das Büro ist von jetzt an gehalten, Verbote, Veränderungswünsche und die Ablehnung von Projekten zu begründen; die Berichte müssen schriftlich und innerhalb von 30 Tagen nach Eingabe vorliegen.

Für die vielen Filmemacher, deren Arbeiten zur Zeit verboten und blockiert sind oder verzögert werden, ist das nur ein schwacher Trost. So hatte Zhang Yimou im Frühjahr 1996, also vor Inkrafttreten der „neuen Verantwortlichkeit“, ein Drehbuch mit dem Titel „You Hua Haohao Shuo“ eingereicht (etwa: Probleme? Sprechen Sie darüber!). Der Film ist eine im städtischen Milieu angesiedelte Komödie über einen jungen Intellektuellen, der seine Geliebte, die ihn wegen eines reicheren Mannes verläßt, nicht aufgeben kann; vielleicht hat der Film einen autobiographischen Hintergrund – zumal sich Zhang und Gong Li kürzlich trennten – jedoch keine politischen Untertöne). Er machte die altbekannte Erfahrung, nichts vom Filmbüro zu hören, begann aber dennoch mit der Produktion, weil er davon ausging, die Erlaubnis doch noch zu erhalten. Im August war der Film fertig. Zhang hat jedoch bis heute nichts vom Filmbüro gehört – was ihn in die äußerst unangenehme Situation bringt, einen „illegalen“ Film gemacht zu haben.

Chen Kaiges Situation ist dagegen klarer. Im Mai 1996 sagte man ihm, daß seine „Temptress Moon“ in China verboten sei. Gründe wurden nicht genannt. Im Juni legte er ein neues Skript vor, das das Filmbüro im Juli ablehnte, woraufhin Chen das Projekt aufgab. Er versucht es nun mit einem neuen Drehbuch.

Tian Zhuangzhuang, Regisseur von „Der blaue Drache“, hat dagegen jede Hoffnung aufgegeben, im derzeitigen politischen Klima Filme machen zu können. Seit er 1995 von der schwarzen Liste gestrichen wurde, ist er Direktor der quasi- autonomen Produktionsgesellschaft „Pegasé“ innerhalb des Pekinger Filmstudios und versucht, neue Regisseure bei innovativen Filmprojekten zu unterstützen. Seine ersten beiden Produktionen wurden jedoch schon blockiert. „How Steel is Forged“ von Lu Xuechang hat bereits zwei Zensurstationen durchlaufen, bleibt in den Augen des chinesischen Filmbüros aber noch immer unzeigbar. Und auch „Girl from Vietnam“ von Wang Xiaoshuai (bekannt durch seinen „illegalen“ Film „The Days“) wurde vom Studio abgelehnt. Studioboß Han Sanping hat offenbar keine Lust, dem Filmbüro eines Tages erklären zu müssen, warum er einen Film über zwei Kriminelle macht, die um die Gunst einer Prostituierten konkurrieren.

Der einzige Regisseur Chinas, der zur Zeit kompromißlos seinen Weg geht, ist Zhang Yuan, der sich weiterhin in unautorisierten, unabhängigen Produktionen engagiert. Jeder seiner Filme zeigt gegenüber dem vorherigen eine deutliche Entwicklung. 1996 schloß er zwei Filme ab: das Dokudrama „Sons“, in dem eine Pekinger Problemfamilie, deren alkoholkranker Vater im psychiatrischen Krankenhaus landet, Szenen aus ihrem eigenen Leben nachspielt, und den Spielfilm „Behind the Forbidden City“, in der die psychologischen Implikationen einer sadomasochistischen Beziehung zwischen einem unterdrückten Macho-Polizisten und einem jungen Schwulen ausgeleuchtet werden, der eines Nachts zum Verhör auf die Station gebracht wird.

Beide Filme berühren traditionelle Tabus in China. „Behind the Forbidden City“ öffnet zudem ein neues Kapitel in der chinesischen Kultur. Der Film diskutiert nicht nur zum erstenmal offen das Thema Homosexualität im modernen China, sondern bietet auch eine erste Analyse der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Untertanen in der Bildsprache des Sadomasochismus.

Wie alles, was Zhang seit „Peking Bastards“ (1993) gemacht hat, sind diese Filme ohne Erlaubnis des Filmbüros produziert und exportiert worden. Zhang steht seit Anfang 1994 auf der schwarzen Liste der Regierung. Aber diese offizielle Mißbilligung seiner Person und Arbeit scheint sich auf seine Fähigkeit, Filmproduktionen zu organisieren und frei zu reisen, nicht negativ auszuwirken. Einige Paragraphen der neuen Filmverwaltungsbestimmungen scheinen allerdings direkt auf ihn gemünzt zu sein. Falls er weiterhin Filme „ohne Lizenz“ dreht, drohen ihm für dieses „Verbrechen“ im Wiederholungsfall Verhaftung und Gefängnis. Viele Filmemacher innerhalb und außerhalb des „Systems“ beobachten seinen „Fall“ mit einiger Spannung. Zhang Yuan hat „Behind the Forbidden City“ im September 1996 als Preview auf dem neuen Pusan Film Festival in Südkorea gezeigt und plant seine offizielle Premiere in der Reihe „Directors Fortnight“ in diesem Jahr in Cannes.

Die meisten Hongkonger Filme hatten bis vor kurzem ihre Kosten schon vor der ersten Kameraeinstellung mehr als gedeckt. Die vielen Hongkonger Produzenten waren es gewohnt, ihre Filme in ganz Ost- und Südostasien (und an chinesische Verleiher weltweit) vorab für mehr Geld zu verkaufen, als die Gesamtproduktion kosten würde. Allein vom Vertrieb in Taiwan konnte man die Deckung von zwei Dritteln bis drei Viertel der Kosten eines durchschnittlichen Hongkongfilms erwarten. Aber die Rechnung geht nicht mehr auf. Nicht nur das Hongkonger Publikum sieht statt heimischer Produktionen lieber Filme wie „Mission: Impossible“ oder „Independence Day“. Auch die in der Region und in Übersee lebenden Chinesen bleiben seit zwei Jahren den chinesischen Produktionen fern. Produzenten können jetzt von Glück sagen, wenn sie ein Sechstel ihrer Produktionskosten vor Drehbeginn aus Taiwan zusammenbekommen. Diese ökonomische Krise ließ einige Hongkonger Filmemacher wegen englischsprachiger Produktionen nach Kalifornien schielen. Ein paar sind John Woo nach Hollywood gefolgt, darunter Kirk Wong, Ringo Lam und Tsui Hark. Und der Trend hält an. Viele Journalisten haben diesen Exodus mit Chinas bevorstehender Übernahme von Hongkong in Verbindung zu bringen versucht – eine irrige Annahme.

Seit 1982 Ann Huis Film „Boat People“ über die nordvietnamesische Übernahme von Danang, der allgemein als Metapher für Hongkongs zukünftiges Schicksal unter chinesischer Herrschaft gelesen wurde, war die Presse- und Meinungsfreiheit in Hongkong kein Thema mehr. Im selben Jahr kamen auch Tsui Harks „Don't play with Fire“ und Patrick Tams „Nomad“ heraus, die beide in ihrer ursprünglichen Version verboten worden waren und teilweise neu geschrieben und gedreht werden mußten, um sie für den Vertrieb in Hongkong akzeptabel zu machen. Beide Filme zeigten provokative Bilder zum Thema Jugendkriminalität. Seitdem herrscht in der Filmindustrie wie überall in Funk, Fernsehen und Presse Hongkongs weitgehend Selbstzensur. Kein Filmemacher hat ein besonderes Bedürfnis, durch provokante Filme professionellen Selbstmord zu begehen. Die Mischung aus unterdrückter Wut und müder Resignation, mit der die Filmindustrie die chinesische Übernahme erwartet, spiegelt die Stimmung der gesamten Gesellschaft wider.

Soweit sich Filmemacher überhaupt auf das Thema Hongkong – China einließen, taten sie dies mit Samthandschuhen. Yim Hos Drama „Homecoming“ (1984) ist dafür typisch: Eine Frau, die von der urbanen Tretmühle Hongkong ausgelaugt ist, kehrt in ihr Dorf nach Guangdong zurück und entdeckt inmitten ländlicher Ruhe ihr wahres Ich wieder. Selbstgeißelung ist in Hongkong ein seltenes Phänomen, aber die Voraussetzungen, die Yims Story zugrunde liegen, korrespondieren mit einer scheinbar recht häufigen romantischen Phantasie: Neben der offensichtlichen Bedeutung verrät diese Phantasie auch einen „politischen“ Wunsch, das Beste von China zu denken oder es doch so positiv wie möglich zu sehen. Umgekehrt haben es die wenigen Hongkonger Filme, die sich mit dem Thema Emigration und/oder dem Wunsch nach einem Paß eines Drittlandes beschäftigten, immer vermieden, sich mit den Gründen für den Emigrationswunsch zu beschäftigen – sie verrenkten sich förmlich bei dem Versuch zu vermeiden, eine schwierige Situation noch schwieriger zu machen.

Der einzige Film aus Hongkong, der sich dieser Verschwörung von Schweigen und Romantisierung entzogen hat, ist Shu Keis autobiographischer Dokumentarfilm „Sunless Days“ („Tage ohne Sonne“, 1990). Darin zeigt der Filmemacher an sich selbst, seiner Familie und Freunden, welches Leben und welche Träume ihnen unmittelbar nach dem Tiananmen- Massaker von 1989 geblieben sind. Dieser Film, die bei weitem engagierteste und bewegendste Reaktion eines Hongkonger Künstlers auf das Massaker, wurde vom staatlichen japanischen Sender NHK finanziert. In Hongkongs Fernsehen war er nicht zu sehen.

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