■ Fünf Jahre nach dem Maastricht-Vertrag hat sich die Idee eines vereinten Europa längst in ihr Gegenteil verkehrt
: Was kommt nach Europa?

Europa ist tot. Es hängt am Tropf und wird künstlich am Leben erhalten. Zwar verkünden die Staatschefs der Mitgliedstaaten stets aufs neue, man habe nun das Wiederbelebungselixier gefunden und werde nun, nach Einführung der gemeinsamen Euro-Währung, zügig auch die soziale und politische Integration vorantreiben. Allein – es fehlt der Glaube. Zu sehr hat sich Europa ins Gegenteil dessen verkehrt, als was es einst gedacht war.

Die Idee, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs für Besiegte wie für Sieger eine Union gleichberechtigter, der gegenseitigen Hilfe verpflichteter Länder ohne interne Grenzen zu schaffen, hatte uns ja alle fasziniert. Eine Union sollte es sein, die sich durch Humanität, Solidarität und Gleichberechtigung aller auszeichnet und eine Heimstatt für politisch Verfolgte, Bezugspunkt für die Hungernden der Welt ist. Es kam anders. In den EU-Ländern verzweifeln mehr als 20 Millionen Arbeitslose und Minderprivilegierte. Sie sehen sich selbst elementarer Hilfen beraubt. An den Außengrenzen des zur „Festung“ erklärten Europa werden Hilfesuchende abgewiesen; und die schon drin sind, haben begründete Angst vor Fremdenfeindlichkeit. Gleichzeitig sickert die Vorstellung kriegerischer Einsätze auch jenseits der Verteidigung des eigenen Territoriums in immer mehr Köpfe ein.

Auch der gegenseitige Nutzen ist perdu: Wo noch in Zeiten der 1958 begründeten EWG jeder Nachteil für ein Land durch einen entsprechenden Vorteil auf einem anderen Gebiet ausgeglichen wurde, herrscht jetzt nur noch die Normierung zum allseitigen Nachteil. Inzwischen gilt die Regel: Niemand darf aus einer Harmonisierung auf europäischer Ebene einen Vorteil ziehen. Ob der europaweit einzuführende Schutzkontaktstecker oder die Wasserspülung im Klosett – nie darf ein bereits vorhandenes Modell zur Norm erklärt werden. Natürlich machen die einschlägigen Hersteller da ihre Geschäfte, gelackmeiert aber ist der Bürger. Viele Länder müssen zudem mühsam erreichte Standards aufgeben, Deutschland etwa im Umwelt-, Daten-, Arbeitsschutz und bei den Lebensmitteln. Andere Länder werden ganze Sektoren einbüßen – Italiens Tourismus etwa ist ohne Floatiming beim Lirakurs nicht lebensfähig, in Frankreich bricht der Transportsektor ein.

Das kann nicht gut gehen. Doch während in nahezu allen anderen Ländern nicht nur die Einführung des Euro in Frage gestellt, sondern bereits eine lebhafte Diskussion über den Sinn und Unsinn dieser ganzen Gemeinschaft geführt wird, sehen wir in Deutschland bisher alles nur als eine Art vorübergehende Grippe an, die man kurieren kann. Doch da ist nicht mehr viel zu kurieren. So richtig leben können in diesem Europa nur die Hochfinanz, das Spekulantentum, Teile der Exportwirtschaft und Mafiosi. Mittlerweile aber bringt selbst ein weltweiter Wirtschaftsaufschwung keine Entlastung der Arbeitslosigkeit mehr. Immer mehr Unternehmen müssen ihre externe Konkurrenzfähigkeit durch Verteuerung des Inlandverkaufs kompensieren – oder aber die Produktion in Billiglohnländer auslagern. Für den Staat bedeutet dies Einbußen bei den Steuereinnahmen. Die Reduktion der Dienstleistungen und damit auch weiterer Bürgerunmut sind zwangsläufige Folgen. Dem Mittelstand, dem Handwerk, den Bauern hat die Union sowieso keine großen Vorteile gebracht. Zu Hunderttausenden sind sie pleite gegangen – an ihre Stelle sind keineswegs ausreichend Großunternehmen getreten. Das alles hat viele Bürger dem Europagedanken entfremdet.

Nur die Deutschen ignorierten bis vor wenigen Wochen die Fakten. Egal, ob in Italien die Neofaschisten in die Regierung kommen oder die Schweiz in einem Referendum die Mitgliedschaft in der EU ablehnt – hierzulande gilt selbst noch als kleiner Betriebsunfall, wenn der bisher überzeugte Europäer Tony Blair sein Referendum zu Europa veranstalten will. Erst seit sich namhafte Stimmen aus Frankreich melden, als anläßlich des Widerbeitritts Italiens zum Europäischen Währungssystem heftiger Krach mit dem westlichen Nachbarn ausbricht, erstmals eine massive Allianz Frankreich/Italien hervortritt, steht die Krise Europas endlich auch auf der deutschen Tagesordnung. Aber nicht als Feststellung nahenden Todes, sondern wiederum nur als kleine, unangenehme Erkältung. Als Therapie wird empfohlen, den Euro etwas aufzuweichen und eine „Verfassung Europas“ anzukündigen. Eine gründliche Analyse unterbleibt.

Die Linken, aber auch die Grünen sind schuld, daß diese Lage nicht diskutiert wird. Seit der Wiedervereinigung gilt linksgrün die Losung, man müsse Deutschland in einem vereinigten Deutschland „bändigen“. Die Konservativen dagegen halten vor allem an Europa fest, weil sie dieses ausschließlich deutschlandbeherrscht denken und sich so einen weiteren Machtzuwachs erhoffen. „Zu Europa gibt es keine Alternative“, heißt quer durch die politischen Parteien der Refrain, den uns deren Wortführer im Chor mit Industriemanagern, Gewerkschaftern, Großbankern vorsingen. Selbst die dem Euro abgeneigte Bundesbank will das vereinte Europa ja, nur eben lieber mit der D-Mark als universellem Zahlungsmittel und kontrolliert von ihr.

Daß „Europa nur nach dem deutschen Modell zu verwirklichen ist“, wie der französische Kritiker Max Gallo sagt, werden sich die anderen Länder aber nicht gefallen lassen. Nur – umgekehrt werden die Deutschen auch keine Unterordnung unter die kleineren Staaten akzeptieren können. Der Rückzug einiger Länder auf nationale Positionen – wie Frankreich – oder ihre Ausschau nach alternativen Bündnissen – wie Italien und Griechenland im Mittelmeerraum – wird so massiver. Möglicherweise werden sich auch regionale Zusammenschlüsse von Teilen einzelner Länder bilden, wie sich dies im Alpenraum anbahnt. Alle auf ihnen näherliegende Probleme orientiert denn auf eine Einigung Europas.

Für die kritische Intelligenz, die sich noch immer im Kurpfuschen am hingeschiedenen vereinigten Europa übt, ist es daher höchste Zeit, sich auf das einzustellen, was nach Europa entstehen könnte. Denn es ist von allerhöchster Bedeutung, wie und mit welchen sozialen, politischen, kulturellen, ja möglicherweise auch militärischen Begleiterscheinungen dieser Zerfall ablaufen wird. Je eher wir uns mit Perspektiven befassen, die nicht Europa heißen, um so besser sind wir für den kommenden Ernstfall gerüstet. Werner Raith