: Bibliophile Sinnenklave
Im brandenburgischen Wandlitz gibt es eine Bibliothek, die mehr ist, als ein Ort, an dem Bücher aufbewahrt und ausgeliehen werden ■ Von Bettina Maria Waffek
Eine Faust saust auf den spartanischen Holztisch. „Möönsch, dat darf ja wohl nich wahr sein!“ Hinter der schmächtigen Person steckt offenbar eine gehörige Portion Kraft. „Ick mach Schrippen, ick koch Kaffee, ick jeh eenkoofen für die, ja, wat denn noch? Da jibts keen freundliches Wort nich, ne, du bist nur die olle Putze!“ Conni Frömke ist in Fahrt. In ihre Empörung mischt sich ein freches Grinsen. Die Reinigungsfachkraft und alleinerziehende Mutter zweier Kinder kämpft tagtäglich den Kampf mit schwindsüchtigen Kitaöffnungszeiten, mit launigen Sachbearbeitern und mit der Degradierung am Arbeitsplatz. Wenn sie mal Dampf ablassen, sich ausärgern will über all die privaten und beruflichen Ärgernisse geht sie in die Bibliothek ihrer Stadt. Denn hier gibt es nicht nur Bücher. Im Hinterzimmer der Bücherei sitzen ihr drei Paar aufmerksame Ohren gegenüber, die jedes Wort verfolgen und verständnisvoll nicken.
Diese Bibliothek ist mehr als ein Ort, an dem Bücher aufbewahrt und ausgeliehen werden. Hinter der mausgrauen Tür breitet sich ein kuscheliger Raum aus mit Bücherregalen, Sitzecke, Farnkräutern und Billardtisch. Hier werden politisch brisante Debatten geführt, hier wird die schwarze Kugel versenkt, Halma gespielt, über Dinosaurier geforscht und eben auch mal auf den Tisch gehauen. Die Benutzer kommen ins Gespräch und stellen gemeinsam etwas auf die Beine. Das können politische Veranstaltungen sein oder ein Jogakurs. Das sind oft ganz lebenspraktische Dinge wie gegenseitiges Kinderhüten oder zu mehreren auf Ämter gehen, um sich gegen Behördenwillkür zu wehren.
Die Wächterin über das knapp 10.000 Medieneinheiten zählende Domizil heißt Annemarie Paehr. Die engagierte Mittvierzigerin springt auf, als der Kaffee alle ist, klopft Conni Frömke aufmunternd auf die Schulter und rennt hinaus. Soeben ist Kundschaft gekommen. Die Frauenrunde überläßt sie sich selbst, denn fürs erste hat sie ihr Ziel erreicht: Impulse geben, das ist ihr wichtig, Menschen zueinander führen.
Die Impulse für die Multifunktionale Bibliothek kommen aber auch von den BenutzerInnen. Eine pinnte jüngst einen Zettel an die Wand, weil sie Englisch lernen wollte, Seitdem treffen sich gut 30 Interessierte regelmäßig zum Englischkurs. Eine andere hatte die Idee, die von Berlin Zugereisten mit den alteingessenen WandlitzerInnen bekannt zu machen. Die Gruppe richtet nun Veranstaltungen aus und mischt sich mitunter in die Kommunalpolitik ein.
Sogar im Rathaus schätzt man sie, die etwas andere Bibliothek. 150.000 Mark im Jahr läßt die Stadt sich die Einrichtung kosten. Das ist nicht viel, bedenkt man, daß der kommunikative Ort für die WandlitzerInnen auch Kulturstätte und Freizeittreff ist. Das ist aber doch viel, findet Bürgermeister Ingo Musewald, denn der Fortbestand der Bibliothek grenzt fast schon an ein kleines Wunder. Nach der Wende sind immerhin zwei Drittel aller Bibliotheken in Brandenburg geschlossen worden.
Zwischen der Bibliothek und den Lehrern aus Wandlitz und Umgebung gibt es eine fruchtbare Zusammenarbeit. Auch an diesem Nachmittag ist eine Schulklasse angemeldet.
Die Tür fliegt auf und herein stürmen etwa 20 Kinder, schreien und wuseln durcheinander. „Ich will zu Dinosauriern forschen“, ruft ein Dreikäsehoch. Schon macht er sich an einem Regal zu schaffen. Annemarie Paehr holt tief Luft: „Stopp! Halt mal!! Alle mal herhören. Erst erklär' ich euch, wie ihr die Bibliothek nutzen könnt.“ Hinter den Kindern erscheint die Lehrerin Silvia Linner. Sie hält den Sachkundeunterricht heute in der Bibliothek ab. Auf dem Lehrplan stehen nicht Dinosaurier, sondern die „unterschiedlichen Formen des Wohnens“. ABM-Kraft Cornelia Bera hat für die SchülerInnen eine Vorlesestunde in petto. Sie erzählt, daß es neben Pfahlbauten, Wohnwagen, Iglus und Einfamilienhäusern auch Hütten und Paläste gibt. Wenn die älteren Kinder, so ab der siebten Klasse, in der Bibliothek Unterricht haben, finden sie sich zu Arbeitsgruppen zusammen und recherchieren darauf los. Eine willkommene Abwechslung zum Frontalunterricht.
Inzwischen zählt die Statistik der Bibliotheksleitung 10.000 BesucherInnen pro Jahr. Das ist zehnmal soviel wie kurz nach dem Mauerfall. „Nach der Wende dachten wir, die Leute verblöden“, erinnert sich Annemarie Paehr. „Die haben wie wild die ganzen Herz-Schmerz-Romane ausgeliehen. Zum Glück ist diese Phase überstanden. Jetzt kommen sie und sagen: Annemarie, haste mir nich mal wieder was Gescheites?“
„Möönsch Annemarie, haste mir nich noch 'ne Gutenachtlektüre?“ Die Damenrunde ist in Auflösung begriffen. Conni Frömke lacht und macht sich am Psychoregal zu schaffen. Dann zieht sie das 500-Seiten-Bändchen „Frau in der Gesellschaft“ hervor. „Hätt ick mir früher nich für interessiert“, sagt sie mit verschmitztem Seitenblick. Annemarie Paehr packt zur gehaltvollen Lektüre noch die verbliebenen Käsestullen und verabschiedet ihre Gäste. „Ach, ist das wieder spät geworden“, raunzt sie. „Weißt du, wie lange meine Bücher schon neben dem Bett liegen? Ich komm' und komm' nicht zum Lesen, und morgen ist die Leihfrist abgelaufen.“
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