: Mit sprödem Charme und wenig Glamour
■ Die Berlinale ist im Unterschied zu Cannes ein Publikumsfestival. Während am Meer nur die Stars aufmarschieren, kommt hier auch die Subkultur zur Kinokarte
Unbeschreibliche Szenen spielten sich im ersten Jahr der Berlinale vor dem Titania-Palast ab. Wie bei Straßenschlachten riegelte die Polizei ganze Abschnitte ab, weil sich Steglitzer Hausfrauen hysterisch zu Viktor de Kowa und Hans Söhnker drängten. Als repräsentative Veranstaltung für Berlin und die deutsche Filmindustrie geplant, war das Festival gleich ein Bombenerfolg. Backfische umlagerten die großen Hotels, durchbrachen Polizeiketten, um ein Autogramm von Gina Lollobrigida oder Jean Marais zu ergattern. Die öffentlichen Verkehrsmittel wurden beflaggt, Gedächtniskirche, Rathäuser und Kaufhäuser nachts angestrahlt – die Berlinale als gesellschaftliches Spektakel prägte in ihren Anfangsjahren das Bild der Stadt.
Mittlerweile hat sich der Spektakelcharakter verflüchtigt, und die Spaliersteher vor der Galavorstellung im Zoopalast sind in der Hauptsache neugierige Passanten. Gala, das ist Cannes, und da stehen sie noch, die Hausfrauen, um die Stars über die Freitreppe schreiten zu sehen. Cannes, wo der gemeine Sterbliche nur im Abendanzug in den Wettbewerbsfilm kommt, wo sich die ZDF-Kameramänner den Smoking aus dem Kostümfundus mitbringen, wo ein Menschenauflauf entsteht, wenn sich Catherine Deneuve eine Schachtel Aspirin kauft, wo ein ansonsten verschlafenes Rentnerstädtchen zehn Tage lang Metropole spielt.
Den Glamour, der in Cannes immer noch hemmungslos zelebriert wird, hat die Berlinale verloren, dennoch gilt sie nach wie vor als Publikumsfestival par excellence. Für besagte Normalsterbliche gibt es im Unterschied zu Cannes und Venedig zum Beispiel einigermaßen ausreichende Kartenkontigente. An der Spree kann jeder nach seiner Fasson ins Kino gehen, selbst auf den Einladungen zum Eröffnungsempfang scheint „Abendgarderobe“ nur hilfloses Aperçu. Das mag zum demokratischen Ruf der Berlinale beitragen, zuschauerfreundlich aber ist sie vor allem wegen des Forums. Nach der Berlinale-Krise 1979 gegründet, war diese Sektion zunächst die einzige, die sich innerhalb eines großen Festivals auf den Zuschauer zubewegte. Mit Podiumsdiskussionen und den fast schon legendären Forumsblättern, die laut Reglement mit zarter Didaktik für eine „angemessene Aufnahme der Filme“ sorgen sollen.
Statt um Prominenz und Events, geht es darum, Filmkunst unter die Leute zu bringen. Ullrich Gregor, der sich mit gewohnt somnambuler Präsenz im krachend vollbesetzten Delphi-Filmpalast bis kurz vor Mitternacht mit einem iranischen Regisseur unterhält und sogar noch ein Publikumsgespräch in Gang kriegt, ist Teil dieses Phänomens. Mit Gründung des Panoramas, das auf Initiative von Manfred Salzgeber seit Beginn einen besonderen Blick auf schwul- lesbische Filme richtete, akquirierte die Berlinale weitere Publikumsschichten. Durch das Prinzip der offenen Pressekonferenz wird auch hier der Zuschauer ohne Akkreditierung ins Festival miteinbezogen. In Venedig ist es die nächtliche Reihe „Venezia Notte“, mit der die Jugendlichen auf den Lido gelockt werden. Zu amerikanischen Blockbustern, Publikumsfilmen und was man so nennt. Nach der Vorstellung gibt es dann noch Open-air-Rockkonzerte, ab und zu sagt auch ein Star ein paar Worte ins Mikrofon.
Dieses Brot-und-Spiele-Gefühl, das auch in Cannes die Croisette zur Bühne macht, fehlt in Berlin fast völlig. Hier macht das Publikum den Film zum Spektakel. Bei Lothar Lambert, wenn sich die Szene noch mal als Subkultur träumen kann, bei brasilianischen oder mexikanischen Melodramen, wenn das halbe Lateinamerika-Institut weint, bei Schwertkampffilmen aus Hongkong, wenn die chinesische Fraktion auf der Galerie des Delphi in rhythmisches Kampfgeschrei ausbricht. Katja Nicodemus
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