Zarte Versuchung von ganz rechts

Beim zweiten Wahlgang will die Kandidatin der rechten Front National morgen in der südfranzösischen Kleinstadt Vitrolles ihr gutes Ergebnis halten  ■ Aus Vitrolles Dorothea Hahn

Sie haben leicht reden. Bei Ihnen stimmt doch alles. Ihre Türken haben nichts zu melden. Ihre Politiker sind nicht korrupt. Bei Ihnen sind die Straßen sauber, es herrscht Ordnung, und die Leute arbeiten, statt zu streiken. Bei uns wollen die die 32-Stunden-Woche! Und die Rente mit 55! Stellen Sie sich das bloß mal vor!“

Deutsche Verhältnisse, zumindest das, was er darunter versteht, wünscht sich der pensionierte Militär in den Fünfzigern für seine Mittelmeerstadt Toulon. „Wenn wir das hätten“, sagt er, „bräuchten wir die Front National nicht.“ Dabei schnipst er eine Zigarillokippe auf die Straße und tastet mit den Augen die Rückseiten der an diesem sonnigen Februarnachmittag an dem Straßencafé vorbeiflanierenden Frauen ab. Um zu erklären, wie vor sechzehn Monaten der erste rechtsextreme Bürgermeister in das Rathaus kam, schiebt er seine Nachbarn vor, seine Freunde und seine früheren Kollegen. Eine halbe Stunde lang redet er um den heißen Brei herum. Bloß um sich selbst nicht als Wähler zu offenbaren.

Jeder dritte Bürger der Mittelmeerstadt Toulon hat im Juni 1995 für Maurice Le Chevallier gestimmt. Eine buntgemischte Gesellschaft aus Hafenarbeitern, Kleingewerbetreibenden, Freiberuflichen, Militärs und Rentnern. Nachdem sie den Triumph hatten, zogen sie sich wieder in ihre vier Wände zurück. Jetzt warten sie ab. Lassen den Bürgermeister machen. Und finden nicht, daß er Fehler gemacht hat.

Toulon, das die Touristenprospekte als „größten und weitesten Naturhafen des Mittelmeers“ preisen, ist eine geschlossene Gesellschaft. Die Bucht gehört seit Jahrhunderten der Kriegsmarine. Von den provenzalischen Häusern und den engen Gassen des Zentrums aus ist sie nicht sichtbar. Eine sechsstöckige Häuserfront versperrt den Blick. Man kann die Hafenstadt Toulon durchqueren, ohne das Meer zu sehen.

Die Jahre des Betonbooms an der Côte d'Azur haben Toulon markiert. Dem Sportstadion aus Rohbeton und dem benachbarten Mayol-Einkaufszentrum sind mehrere Straßenzüge mit Altbauten zum Opfer gefallen. Nachdem dort die großen Supermärkte eingezogen waren, gingen die kleinen Läden in der benachbarten Innenstadt pleite. Heute gilt sie als wirtschaftliche Katastrophenzone. Wer dort ein Restaurant eröffnet, bekommt massive Steuererleichterungen. Beim Bau des Autotunnels unter Toulon ist im vergangenen Jahr der Boden weggesackt. Seither ist das Milliardenprojekt eine Bauruine – genauso wie das geplante neue Rathaus, die Mediathek und das Technologiezentrum. Die Toulonnais zahlen Millionen dafür.

Der einstige konservative Bürgermeister Trucy, der die Stadt jahrzehntelang regierte, hat sich nach seiner Niederlage sang- und klanglos zurückgezogen. Die Toulonnais rätseln darüber, wie er es geschafft hat, nicht verurteilt zu werden. Einer seiner politischen Freunde, der langjährige Provinzpolitiker Maurice Arreckx, sitzt wegen Korruption im Gefängnis. Gegen andere Politiker laufen ebenfalls Verfahren.

Die Oppositionsrolle gegen die Front National hat eine neue Generation von Politikern wider Willen übernommen: Sozialarbeiter, deren Etats von der neuen Stadtverwaltung gestrichen oder massiv gekürzt wurden. Buchhändler, die wegen der massiven Präsenz nationalrevolutionärer Literaten und Folkloreschreiber die Buchmesse boykottierten. Theatermacher, die es ablehnen, Subventionen von Rechtsextremen zu nehmen. Bei ihren Treffen im „Comédia-Theater“ kommen rund 30 Personen zusammen – linke Politiker und Gewerkschafter eingeschlossen. Ihren Demonstrationsaufrufen folgen in der 100.000-Einwohner- Stadt bis zu 1.000 Menschen. Doch sie hat auch Erfolge erzielt. Die Kommunistin Daniele De March nennt unter anderem die Mütterproteste gegen die Verdoppelung der Essenspreise an den Schulen, die vor allem kinderreiche Familien traf. Nach zwei Wochen zog der Bürgermeister die Maßnahme zurück.

Ihre Wahlversprechen hat die Front National in Toulon bislang nicht eingelöst. Statt der groß plakatierten „nationalen Präferenz“ brachte sie in den ersten Wochen ihrer Verwaltung sogar zahlreiche nordafrikanische Familien in Sozialwohnungen unter. Der alte Bürgermeister Trucy hatte 900 davon leer stehen lassen, um seine Wahlhelfer zu belohnen. In den Vorstädten haben die Berichte über „Cousin Ahmed und Cousine Fatima, die dank Le Chevallier eine Wohnung gefunden haben“ einen guten Eindruck hinterlassen.

„Wir würden gern mehr für die Franzosen tun“, sagt Ratsherr Louis Soccaja, pensionierter Schulrektor und Frontist seit vielen Jahren, „aber das Gesetz verbietet es uns.“ Statt der versprochenen großen Taten beschränkt sich die Front National auf Gesten.

Am Jahresanfang schüttelte Bürgermeister Le Chevallier sämtlichen Mitarbeitern „persönlich“ die Hand, wie das offizielle neue Mitteilungsblatt des Rathauses, Le Toulonnais, vermeldet. Dabei wünschte er ihnen, „Gesundheit, Liebe und Vaterland“. In Toulon, wo einst die überseeischen Expeditionen Frankreichs ihren Ausgangspunkt hatten und später ein Teil der Kolonialverwaltung gestrandet ist, sind solche Erklärungen reiner Balsam. Besonders für die knapp 30.000 pieds noirs – Franzosen, die bei der Unabhängigkeit auf die Nordseite des Mittelmeers kamen –, für die der Algerienkrieg nie wirklich aufgehört hat. „Wir sind einmal vertrieben worden“, sagt Soccoja, einer der vielen pieds noirs, die mit der Front National ins Rathaus eingezogen sind, „aber wir lassen uns von den Arabern nicht ein zweites Mal vertreiben. Nicht aus Toulon.“

Konkrete Politik betreiben die neuen Ratsherren im kommunalen Bereich. Nach 16 Monaten schwärmt ein Taxifahrer über das prompte Ausstopfen von Löchern im Asphalt. Eine Hotelbesitzerin beschreibt die „bessere Arbeit“ der städtischen Reinigung. Dabei hat die weder ihr Personal aufgestockt noch ihre allabendliche Routine beim Abspritzen der zentralen Straßen und Plätze geändert. Bloß die – alte – Aufschrift auf ihren weißen Lastern erscheint heute in einem neuen Licht: „Toulon – Sauberkeit an allen Fronten.“ Knapp vierzig Personen mehr arbeiten heute bei der Polizei. „Schlagkräftige Kerle aus den Ordnertrupps der Front National“, behaupten die wenigen Kritiker. Die Kriminalitätsstatistik hat diese Einstellungen nicht beeinflußt, und sie hat auch nicht die im Wahlkampf angekündigte Senkung der Arbeitslosigkeit gebracht. Aber die Wähler haben es doch als angenehm verzeichnet.

Ganz unmerklich und ohne jede Ankündigung hat sich in den sechzehn Monaten das Klima in der Mittelmeerstadt Toulon verändert. Die Geschichtslehrerin Andrée Bonduel, die an dem größten Gymnasium der Stadt unterrichtet und sich seit den Wahlen der Fundamentalopposition gegen Le Chevallier angeschlossen hat, hat anonyme Anrufe bekommen. „Die Fickerei mit den Arabern bekommt dir nicht“, wurde ihr da zum Beispiel gesagt. Und: „Wir wissen, wo du wohnst. Paß auf!“ Buchhändler berichten von anonymen Briefen, in denen sie als „Freunde des Gulag“ beschimpft werden. Der Erzieher im städtischen Dienst, Ahmed Touati, dessen Anti-Front-National-Engagement bekannt war, wurde strafversetzt: Zuerst zur Stadtreinigung, dann sollte er die Scheiße der Pferde einsammeln, auf denen neuerdings Polizisten den Strand überwachen. Touati kündigte.

Im Rathaus fallen Berichte über derartige Gemeinheiten unter die Rubrik „Üble Nachrede und Kampagnenmache der verhaßten Pariser Medien“. Auf der Straße interessieren die kleinen Beschimpfungen genauso wenig wie der Streit zwischen dem international bekannten Direktor und Gründer des Tanztheaters von Chateauvallon und dem Bürgermeister. Nachdem Theaterdirektor Gérard Paquet gleich nach den Wahlen angekündigt hatte, er werde keine Subventionen mehr annehmen, hatte das Rathaus – unterstützt von dem aus Paris geschickten, konservativen Provinzpräfekten – einen Rechtsstreit mit dem Theatermann begonnen. Nach monatelangem Tauziehen, in dessen Verlauf sich selbst der Kulturminister hinter Paquet stellte, führte der Streit in der vergangenen Woche zu der Entlassung Paquets.

Eine knappe Autostunde entfernt wiederholt sich das Szenario in diesen Tagen in der Kleinstadt Vitrolles. Einem durch und durch basisfernen und als korrupt geltenden langjährigen Bürgermeister, diesmal allerdings von der Sozialistischen Partei, steht eine bislang völlig unbekannte politische Außenseiterin aus der Front National gegenüber, die bloß deshalb kandidiert, weil ihrem Gatten Bruno, dem Chefideologen der Partei, jedes Wahlamt für ein Jahr gerichtlich untersagt ist.

Anders als Toulon hat Vitrolles keine Geschichte. Seine Existenz wurde in den sechziger Jahren auf dem Reißbrett beschlossen. Heute zieht er sich zehn Kilometer längs der Autobahn und der TGV- Trasse nach Marseille hin. Ein Ansammlung von Einfamlienhäusern, dazwischen Parkplätze, Supermärkte und Fast-food-Restaurants. Aber es gibt auch Ähnlichkeiten mit Toulon: viele pieds noirs, viel Arbeitslosigkeit und viel Beton.

Als die Strohfrau Catherine Mégret im ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag 47 Prozent bekam, schreckte ganz Frankreich auf. Aus Paris reisten die Spitzen der linken Opposition, bekannte Antirassisten und zahlreiche Kulturschaffende in den letzten Tagen nach Vitrolles, um den selbst in der eigenen Partei unbeliebten Kandidaten Jean-Jacques Anglade zu retten. Mit ihm wollen sie allen Ernstes in Vitrolles die Repulik verteidigen. Aus den drei bereits Front-National-regierten Städten der Region – Toulon, Orange und Marignane – kamen Zeugen, um von der Klimavergiftung unter der Herrschaft der Front National zu berichten. Aber die Vitrollais, die sich erstmals im Zentrum des nationalen Interesses erleben, wollen gerade das nicht. Der Haß der kleinen Leute auf „die Elite“ aus Paris ist mit jedem neuen prominenten Wahlkämpfer zugunsten der sozialistischen Zumutung Anglade gestiegen. Die Front National wußte dieses Ressentiment auszunutzen. Ihre eigene – aus diesem Anlaß aus Paris eingeflogene – Kandidatin wütete in den Texten, die sie ungeschickt vom Blatt ablas, gegen die Bevormundung und Arroganz durch die Pariser.

Am Vorabend des entscheidenden zweiten Wahlgangs ist selbst den überzeugtesten oppositionellen Wahlhelfern klar, daß sie nach jahrzehntelanger Mißwirtschaft alle Chancen für einen Erfolg hat: Nur ein Wunder könnte Vitrolles noch vor einer Front-National-Regierung retten.