: Raufball nach uralter Sitte
Im englischen Ashbourne beginnt jedes Jahr zu Fastnacht eine wilde Jagd über Stock und Stein: Hunderte von Spielern balgen sich um eine bunte Lederkugel ■ Von Günter Schenk
Hoch fliegt der Ball durch die Church Street, Ashbournes Hauptstraße, rumst laut an das Fenster der Kneipe. Gott sei Dank hat der Wirt seinen Laden mit Brettern vernagelt – so wie die meisten Geschäftsleute in dem kleinen Marktflecken in der Grafschaft Derbyshire. Für die Glaser gibt es dennoch immer Arbeit. Denn beim Kampf um den Ball geht einiges zu Bruch. Nicht selten unter den Augen britischer Bobbies, die zum Spiel Sonderschichten schieben.
Beim Match in Ashbourne, auf halbem Weg zwischen Manchester und Birmingham, geht es immer zur Sache. Zwei Tage im Jahr wird dort auf den Straßen noch heute Fußball wie vor vielen hundert Jahren gespielt. Am Fastnachtsdienstag und Aschermittwoch. Mitmachen kann jeder – gewinnen nur eine Seite. Der Ball ist eine buntbemalte Lederkugel, gefüllt mit Kork. Ein handgenähtes Einzelstück. Eine Trophäe für jeden Torschützen. Ein Held, wer sie behalten darf. Dazu muß er punkten, den Ball auf einen Stein pressen. Die Steine sind die Tore, mitten im freien Feld, knapp fünf Kilometer auseinander. Dort muß die Lederkugel landen. Nichts einfacher als das, wenn nicht Hunderte es zu verhindern suchten.
Die Fußballfronten in Ashbourne sind klar. Die aus der Oberstadt kämpfen gegen den Rest. „Up'ards“ gegen „Down'ards“. Eine Kraftprobe zweier Stadtviertel. Ein altes Ritual, eine Mischung aus Ringkampf und Raufball. Keine Seite schenkt sich was. Schließlich geht es um die Ehre. Und die zählt noch in der Provinz, wo man dem seltsamen Kick seit Generationen huldigt.
Schon im zwölften Jahrhundert berichtete eine Chronik vom „Lusum pilae celebrem“, einem „berühmtem Ballspiel“ Londoner Jugendlicher vor den Toren der Stadt. „Sie haben Tricks, ihren Gegner mit dem Ellenbogen aufs Herz zu treffen und mit den Fäusten unter die kurzen Rippen zu stoßen oder hundert mörderische Kniffe dieser Art anzuwenden.“ In Nottinghamshire, der Heimat Robin Hoods, mißfiel einem Pfarrer das Treiben auf den Straßen. „Junge Burschen“, notierte der Gottesmann, „befördern während dieses Spiels einen riesigen Ball, aber sie werfen ihn nicht etwa mit der Hand, sondern stoßen ihn mit den Füßen. Ein recht abscheuliches Spiel, um nicht zu sagen, gewöhnlich und unwürdig des Menschen, unnützer als jedes andere Spiel. Überdies endet es selten ohne Unfall...“ 1583 verfaßte Philip Stubbes ein Pamphlet gegen das „blutrünstige Handgemenge“ und fragte: „Wie läßt sich ein solch mörderisches Spiel mit dem geheiligten Sonntagsfest vereinen?“
Kein Wunder, daß Staat und Kirche das Spiel immer wieder verboten – auch in Ashbourne, wo die Polizei Mitte letzten Jahrhunderts mehrfach Anlaß zum Einschreiten sah. Hunderte von Kickern wurden damals festgenommen. Mit Protestplakaten wie „Briten sind keine Sklaven“ wehrten sich die Bürger gegen die Aktionen der Ordnungshüter. Doch die Spielmoral sank. 1878 erreichte sie ihren Tiefststand, als betrunkene Männer und Frauen sich eine blutige Steinschlacht mit den Bobbies aus der Nachbarschaft lieferten, welche die Regierung zur Verstärkung geschickt hatte.
Nach der Jahrhundertwende besserte sich vieles, entdeckten die Bürger des Städtchens in ihrem Spiel ganze neue Werte. 1916 schickten sie einen Ball zu den Soldaten an die Front. Acht Jahre später erhielt Prinzessin Mary eine Lederkugel aus Ashbourne zur Hochzeit. Eine Aufmerksamkeit, für die sich der Prince of Wales 1928 mit einem persönlichen Besuch bei den Spielern revanchierte. Damit war der ordinäre Kick geadelt.
Auch die Medien fanden am Spiel Gefallen. 1935 meldete sich die BBC erstmals live aus Ashbourne. Zeitungen im ganzen Land berichteten vom Fußballspiel nach alter Väter Sitte – und von den Tricks, die sich clevere Spieler im Laufe der Jahre hatten einfallen lassen. 1946 zum Beispiel schnappte sich ein Motorradfahrer den Ball, um zu punkten. Zehn Jahre später ging einer mit dem Auto auf Torejagd, 1957 einer mit dem Pony. Als 1987 freilich jemand mit der Lederkugel im Inneren eines Fahrzeugs verschwand und davonraste, brachen die Schiedsrichter den Kampf kurzerhand ab. Und damit das nicht wieder vorkommt, änderte man die Regeln: Künftig ist das Spiel zu Ende, wenn der Ball mehr als eine Stunde verschwunden bleibt.
Platsch. Im hohen Bogen ist der Ball im Henmore River gelandet, dem Flüßchen durch die Stadt. Hinterher die Meute der Kicker. Aus dem Fußballspiel ist eine Wasserschlacht geworden. Hunderte schauen dem Treiben jetzt von der Brücke aus zu. Knapp sieben Stunden tobt die Schlacht schon, mittlerweile im Dunkeln. Inzwischen bestimmen Blitzlichter die Szenerie, hat sich das Match zurück in die Innenstadt verlagert. Dort, wo die Pubs sind. Zwischen zwei Gläsern Bier keilt man sich kurz mit denen aus der Nachbarschaft. Die blauen Flecken werden mehr. Wasser und Schlamm haben den Ball um einiges schwerer werden lassen. Die schöne Zeichnung auf dem Leder ist längst ramponiert, die Trophäe nur noch von Gebrauchswert. Ein Trost, daß sie der Sieger nach dem Trocknen frisch bemalt zurückerhält.
Um zehn Uhr ist erst mal Schluß. Schuhe und Hosen sind verdreckt, manches Hemd ist zerrissen, die Schrammen in den Gesichtern sind nicht zu übersehen. Doch das ist Nebensache. Morgen, am Aschermittwoch, sind sie wieder dabei, wenn noch einmal gekickt wird: kreuz und quer durch die Landschaft, durch Straßen und Gärten, Felder und Wiesen, Bäche und Teiche.
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