: Ein Gnadenakt der Kunstgeschichte
Auf der Biennale in Venedig richtete David Lamelas 1968 eine Nachrichtenagentur zum Vietnamkrieg ein. Nun präsentiert der Münchner Kunstverein die Arbeiten des Argentiniers als ein abgeschlossenes Kapitel der Konzeptkunst ■ Von Jochen Becker
„Eine neue Widerlegung der Zeit“ nennt sich die Ausstellung der „Werke 1963–76“ von David Lamelas. Vielleicht sollte man hinzufügen, daß der 1946 in Buenos Aires geborene Konzeptkünstler weiterhin lebt und arbeitet. Doch die Retrospektive im Münchner Kunstverein, das kommentierte Werkverzeichnis und der Katalogtext von Benjamin Buchloh behandeln Lamelas' Arbeit als abgeschlossenes Kapitel: File under „History of Conceptual Art“.
Die Beschränkung auf einen Produktionsabschnitt und insbesondere die Abtrennung der „Werke 1963–76“ von ihrem soziokulturellen Umfeld widersprechen einer Kunstpraxis, wie sie David Lamelas selbst vorangetrieben hat, etwa mit seinem Nachrichtenraum zum Vietnamkrieg. So installierte er 1968 ein „Informationsbüro über den Vietnamkrieg“ auf drei Ebenen: Bild, Text und Ton im Rahmen der international ausgerichteten und in Länderpavillons aufgeteilten Kunstbiennale in Venedig. Italiens größte Nachrichtenagentur belieferte dort einen Fernschreiber mit Meldungen zur US-Invasion, die von einer Sekretärin in sechs Sprachen verlesen, auf Tonband aufgenommen und so auch später per Kopfhörer abhörbar waren. „Höre“ stand mehrsprachig auf einer vorgelagerten Glasscheibe, die den befremdlichen Eindruck von Bühne oder Schaufenster noch verstärkte und die Installation aus Büromaschinen, Tonbandgerät und Mikrophon vom Publikum trennte. In Abwesenheit eines vietnamesischen Pavillons thematisierte Lamelas den durch die anwesenden westlichen Industrieländer unterstützten Krieg und wies so auf die imperiale Ausrichtung der Biennale hin.
Lamelas filmische „Studie der Beziehung zwischen Innen- und Außenraum“ des Londoner „Camden Arts Center“ von 1969 beginnt mit kreisförmigen Bewegungen im leeren Gebäude und zeigt Interviews mit dem Wärter aus Jamaika, der angestellten Sekretärin und dem britischen Chef über ihre Arbeit. Anschließend verläßt der Film den Ausstellungsraum, „als wenn man das letzte Mal auf den ,White Cube‘ schauen würde“ (Buchloh). Draußen folgen eine „Litanei städtischer Statistiken“, Diagramme zu Transportsystemen und Zufallsgespräche auf der Straße über „außerirdischen Verkehr“: Der am Tag der ersten Mondlandung gedrehte Film beschreibt den institutionellen Kontext des Ausstellungsraums, also die räumliche Organisation, die Arbeitsverhältnisse, das Netz der Verkehrsmittel, das urbane Umfeld bis hin zum Ausblick auf kosmische Räume.
Schon vor seiner Übersiedlung nach Europa hatte sich Lamelas mit den Wechselbeziehungen zwischen Ausstellungsraum, Kunstpraxis und deren Finanzierung auseinandergesetzt. Für seine Medienarbeit „Situation der Zeit“ im Di Tella Institute setzte Lamelas 17 Di-Tella-Fernsehgeräte ein, die ihr leeres weißes Rauschen gegen die Ausstellungswände warfen. Als Verweis auf die Abhängigkeit argentinischer Kunst von Industrieförderung wurden die fabrikneuen Ready-mades des Sponsors zu flimmrigen Lichtquellen degradiert. Kaiser Industries und vor allem der dominierende argentinische Elektronikkonzern Di Tella waren Lamelas' wichtigste Förderer: Durch Industriesponsoring bei gleichzeitigem Mangel öffentlicher Förderung verschmolz die öffentliche und korporative Sphäre am Rande der „Weltsprache Avantgarde“ weit früher als etwa in Europa.
„Ich erhielt meine Information hauptsächlich durch Kunstbücher und Kunstmagazine – nicht durch reale Objekte, sondern deren Reproduktionen“, beschreibt Lamelas seine Situation in Buenos Aires. 1968 zog der Sohn spanischer Emigranten „vom kolonialen Europa nach Europa“ und erlangte durch die Teilnahme an der Biennale und der legendären documentaV rasch internationale Aufmerksamkeit. Lamelas gab nach Regieanweisungen Fotos in Auftrag, stilisierte sich als Rockstar und schrieb darüber ein Filmskript: Waren vorher die Magazinseiten für ihn wie eine zweite Kunstschule, bildeten nun Popmusik und das Fernsehen seine Filmakademie.
Lamelas' Fotoserie „The Violent Tapes of 1975“ über den Diebstahl eines Videobandes, das in einer friedvollen Zukunft erneut Gewalt einführt, basiert auf Kamerabewegungen und Standbildern damals gängiger Agentenfilme. Die merkwürdigerweise in umgekehrter Leserichtung gehängte Bildfolge spielte dabei an Orten der städtischen Betonmoderne, zwischen Hafen, Helikopter und Rolltreppenschächten, wie man sie auch in der nahe gelegenen Münchner U-Bahn-Station findet.
In Vergessenheit geratene künstlerische Aktivitäten neu zu positionieren, so wie es Dirk Snauwaert und Heike Kerstin Anders mit ihrer Münchner Präsentation anstreben, ist ein erforderlicher Akt, um die sich ansonsten steinern festsetzende Kunstgeschichte zu korrigieren. Lamelas stammt aus einem Land, das sonst nicht mit dem hegemonialen Kunstdiskurs verbunden ist, und distanzierte sich zunehmend vom Kunstmarkt. Die Gnade der nachträglichen Historisierung kann aber auch gnadenlos sein bei der Präparation gegen das Vergessen. Wenn im Rückblick auffällt, daß entscheidende künstlerische Positionen immer wieder durchs Raster der musealen Kanonisierung gefallen sind, müßte da nicht zuvorderst die Praxis öffentlich-rechtlicher Aufbewahrungsanstalten in Frage gestellt werden? Indem der Kunstverein Lamelas' „Werke 1963–76“ wissenschaftlich aufbereitet und in museumsreifer Weise vorzeigt, wird der klassischen Sammlung zugearbeitet, statt Gründe des institutionellen Vergessens aufzuklären.
David Lamelas: „Werke 1963–76“, bis 3.3., Münchner Kunstverein; danach 29.3.–19.5., Witte de With, Rotterdam
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