: Die Limikolen Europas Von Karl Wegmann
Es fing harmlos an – wie immer. Wir kippen gemütlich ein paar Krombacher, hören uns neue Neil- Young-Bootlegs an („Live in Leipzig '96“, „The Catalyst Tapes“) und tratschen und klatschen über dies und das. Ein ganz normaler Höhepunkt eines Wochenendes in der deutschen Provinz. Eben hat Hermann noch sehr farbig und detailverliebt von seiner letzten Wurzelbehandlung erzählt, da stellt Konscho eine verhängnisvolle Frage: „Kennt jemand ein gutes Buch über Tiere? Philip hat nächste Woche Geburtstag und wünscht sich ein Tierbuch“, erläutert er. „Ich kenn' eins“, meldet sich Berni, „nennt sich ,120 verschiedene Arten, einen Dackel zuzubereiten‘.“ – „Nein, nein, ihr habt mich falsch verstanden“ – Konscho nimmt die Sache ernst –, „Philip wird doch erst zwölf, er will kein Kochbuch, er will...“ – „Da gibt es ein nettes neues Buch über Delphine und einen ganz tollen Saurierroman“, versuche ich zu helfen. „Über Delphine“, fragt Willy, „meinst du das von den beiden Engländerinnen, Amanda Cochrane und Karena Callen? Das kenn' ich, New-Age- Käse, von wegen ,Vergessen Sie Aspirin, küssen Sie einen Delphin‘.“ „Aber ,Raptor Red‘ von Robert T. Bakker ist doch echt klasse“, verteidige ich meinen Tip. „Hab' ich noch nicht gelesen“, gibt Willy zu, „ein Roman über Saurier, sagst du? Wahrscheinlich auch nur wieder populärwissenschaftlicher Magerquark.“ – „Nu mal langsam, Bakker arbeitet schließlich am Tate Museum in Wyoming und gilt als internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Paläontologie.“ „Das weiß ich auch“, triumphiert Willy, „er hat die Macher von ,Jurassic Park‘ beraten, allgemein bekannt. Trotzdem, Flipper und T-Rex sind doch zoologischer Mainstream. Was Philip jetzt braucht, ist etwas wirklich Außergewöhnliches, etwas, was seine Phantasie anregt, etwas...“ „Grottenmolche“, schlägt Hermann vor, „Säbelzahntiger, Hammerhaie, Tasmanischer Beutelwolf.“ Willy überhört das. „Etwas aus der Scientia amabilis, der ,liebenswerten Wissenschaft‘“, schwärmt er, „zum Beispiel ein Bildband über die Limikolen Europas.“ Ruhe am Tisch. In den Köpfen wird ebenso verzweifelt wie vergeblich nach dem kleinen Latinum gegraben.
Willy nimmt einen kräftigen Schluck und genießt unsere Unwissenheit. „Nun sag schon“, drängelt Berni endlich, „was sind das für Limikoten-Dinger?“ Der große Weise lehnt sich lächelnd zurück. „Limikolen“, sagt er, „L-i- m-i-k-o-l-e-n!“ Er faltet die Hände über seinen Bauch und beginnt zu dozieren: „Ein deutsches Wort als einheitliche Bezeichnung für diese Vogelgruppe gibt es nicht. Wörtlich übersetzt bedeutet Limikolen ,Sumpfbewohner‘. Wir zählen dazu Austernfischer, Regenpfeifer, Schnepfen...“
Hermann und Berni palavern längst wieder über Zahnärzte und Hunderezepte. Konscho flüstert mir aufgeregt zu: „Vögel! Der labert was von Vögeln. Ich wußte ja, daß Willy sich einen Hühnerstall bauen will, aber das. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Ich beruhige ihn, hole uns noch ein Bier und sage ihm, wo er „Raptor Red“ kaufen kann.
Und während Neil Young „Rock Forever“ krächzt, erzählt Willy aufgeregt von den Brutplätzen des Spornkiebitzes und von den sumpfigen Wäldern im Nordosten Finnlands, wo der Bruchwasserläufer zu Hause ist.
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