Working Class Zeroes

■ Kein Billy Bragg in Sicht: In Mark Hermans „Brassed Off“ bläst eine Klasse sich selbst den letzten Marsch (Panorama)

John Lennon ist tot, Maggie Thatcher lebt. „Das hast du Mistkerl zugelassen!“ ruft ein verzweifeltes Mitglied der Grimley-Colliery-Band – der Zechenblaskapelle von Grimley – fuckin' Jesus in einer Kirche zu. Phil ist kurz vorm Durchdrehen. Er arbeitet nebenbei als Clown bei Kindergeburtstagen. Eigentlich ist er Kohlekumpel. Trotzdem reicht das Geld nicht, schon gar nicht für eine neue Posaune. Die Schuldeneintreiber schleppen die Möbel aus dem kleinen Bergarbeiterhaus. Seine Frau türmt mit den vier Kindern.

Beim großen Zechenstreik 1984 hatte man Phil eingeknastet. Jetzt, zehn Jahre später, geht es um die Existenz der Kohlengrube, um die persönliche Existenz und das Überleben einer ganzen Kleinstadt in Nordengland. Das Management der Zeche setzt die Arbeiter unter Druck: „Entweder ihr akzeptiert eine Abfindung, oder ihr stimmt für eine Wirtschaftlichkeitsprüfung.

Wenn dabei die Unrentabilität der Zeche festgestellt wird, schließen wir – und die Abfindung ist wesentlich niedriger.“ Die Arbeiter ahnen, daß sie bei diesem Spielchen keine Chance haben und die Stillegung politisch längst beschlossen ist. Die Gewerkschaftsbosse tragen die gleichen Anzüge wie die Manager. Die Kumpel stimmen über die eigene Beerdigung ab: Soll's ein schlichter Sarg sein oder lieber was Gemütlicheres?

Ein Arbeiterklassen-England, wie wir es von Mike Leigh und anderen kennen. Genervte Ehefrauen färben sich die Haare blau und tragen ihre Lockenwickler wie einen Kopfschmuck. Die Männer saufen nach der Arbeit ihre Pints, spielen Billard und reißen dreckige Witze. Solange sich die großen Kohleförderräder über Grimley drehen, könnte alles ewig so weitergehen.

Nur einen Billy Bragg gibt's in Grimley nicht. Aber es gibt Danny, Phils Vater, großartig staublungenhaft gespielt von Pete Postlethwaite. Danny ist Chef und Dirigent der Blaskapelle, für Zusammenhalt und Moral in Grimley so wichtig wie anderswo die freiwillige Feuerwehr. Danny will die Grimley-Colliery-Band beim großen Blaskapellen-Contest in London sehen – als Sieger. Aber die Zeit wird knapp. Seine Lunge ist nearly brassed off. Die Kohlen-Band will sich auflösen, wenn man der Grube das Lebenslicht ausbläst.

Ein Film, der die großen Kämpfe der Arbeiterklasse wachruft und der den Verlust einer Arbeiterkultur dokumentiert, die für unsere Großväter noch normal war – und die in der Epoche der Dienstleistungs-Heinis mit spitzen Fingern zu den Akten gelegt wird. Das „Concerto de Orange Juice“ der Grimley-Band rührt und läßt grübeln, warum nicht mal jemand jesusmäßig in Bonn nachfragt (wenigstens im Film), warum Rio Reiser tot ist, Kohl aber quicklebendig. Andreas Becker

„Brassed Off“. GB 1996, 107 Min. Regie: Mark Herman. Mit Ewan McGregor, Pete Postlethwaite u.a.

Heute: 17 Uhr International