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777 Geschichten

■ Ganz ist hier keiner zu Hause - was das Zuhause nicht schlechter macht: "Amsterdam Global Village". Ein Dokumentarfilm von Johan van der Keuken im Forum

Der 58jährige niederländische Dokumentarfilmer und Fotograf Johan van der Keuken hat seit Anfang der siebziger Jahre zwar oft artifiziell, doch immer entschlossen auf der Seite des politischen Protests gestanden. Er beschäftigte sich mit dem Nord-Süd-Konflikt und dem Fluß des Geldes („I love $“ von 1986), drehte einen Werbefilm gegen die Cruise-Missiles; produzierte für das „Niederländische Palästina Komitee“ und für die „Niederländische Vereinigung zum Erhalt des Wattenmeers“.

Wie nur wenige verband er sein politisches Engagement mit musikalischen und poetischen Elementen: „Ich bin dabei“, hieß es am Schluß von „Eye above the Well“ (1990), „und ich sehe es wie in einem Traum.“

Am Anfang des fast viereinhalbstündigen Dokumentarfilms über seine Heimatstadt, „Amsterdam Global Village“, stand das Fremdwerden des bislang für bekannt Gehaltenen. Mit dem Fahrrad sei er durch Stadtteile jenseits seiner alltäglichen Wege gefahren und sei sich dabei vorgekommen, „als wäre ich zu Besuch in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land“. Von dieser anderen Stadt aus entdeckt van der Keuken die eigene.

Das Amsterdam, von dem seine Protagonisten erzählen, ist nie ganz fest. Wie Borz-Ali, ein tschetschenischer Geschäftsmann, der früher mal in Deutschland stationiert war, dann in Moskau als Leibwächter arbeitete, um schließlich in Amsterdam zu heiraten, schwanken sie zwischen ihrem Herkunftsland und ihrer Wahlheimat, vermissen, wie der bolivianische Gebäudereiniger Roberto die nachbarschaftlichen Beziehungen in der Vorstadt Bijlmer oder sind seit fünf Jahren obdachlos und laufen nur barfuß durch die Stadt. Ganz ist hier kaum einer zu Hause, was das Zuhause nicht schlechter macht.

Einige der Protagonisten sind Reisende. Khalid, ein junger marokkanischer Mopedkurier, fährt elf Stunden am Tag durch Amsterdam und bringt Filme und Fotos von da nach dort. Ab und an macht er Pause am Reichsmuseum und trifft sich mit Freunden aus der Skater- und Kurierszene. Er liebt es, unterwegs zu sein, und träumt davon, mal mit dem Auto Kurierdienste machen zu können.

DJ 100% Isis bahnt sich mit ihrem Plattenkoffer den Weg durch die Tanzenden in einer riesigen Technodiscothek. Sie wiegt sich zwischen den Plattenspielern, um den Übergang richtig hinzukriegen. Nach ihrem Auftritt sieht man sie in einem Imbiß.

Van der Keuken filmt das alles zärtlich distanziert, immer respektvoll. Die Arbeitsabläufe am Imbiß, die Jugendlichen in der Halfpipe beim Skaten oder beim drogenumnebelten Rumhängen zur Technomusik. Viel Liebe verwendet van der Keuken auf Details: wunderschöne Dämmerungen über den Grachten; melancholische nächtliche Spielhallen, ein Bettler, der unbewegt als Statue vor einem Geschäft steht, Polizisten, die auf Mountainbikes die Parks durchkämmen, ein afrikanischer Verkäufer, der einer Kundin schöne Stoffe verkauft. Ein in Ghana gerade sehr beliebter Stoff trägt den Namen: „If you want to talk to me you must sit first.“

Der Film beginnt im Winter, um im Winter zu enden. Die Reise durch die Stadt führt über das Zentrum, durch die Vorstädte bis weit hinaus über die Stadtgrenzen. Der Regisseur fährt mit Borz-Ali ins zerstörte Grosny, er fliegt mit Roberto in dessen Heimatdorf in den Anden; mit Henny, einer jüdischen Sängerin, und ihrem Sohn Adri besucht er das Haus, in dem sie die ersten Kriegsjahre mit ihrem Mann und ihrem Sohn verbracht hat. Seltsame Szene: Während sich die beiden an die Zeit der Judenverfolgung erinnern, steht die jetzige Mieterin, eine afrikanische Frau, als Statistin am Rande.

Dann begleitet van der Keuken die beiden nach Zeeland, wo Adri unterkam, als der Mann der Sängerin nach Westerbork deportiert wurde. Irgendwann sagt der Sohn, er sei damals stolz gewesen, den gelben Stern zu tragen, der ihn vor anderen auszeichnete.

„Amsterdam Global Village“ ist eine Versammlung verschiedener kleiner Dokumentarfilme, ein Film über House Music, ein Film über Thaiboxen, ein Film über...

Das einheitliche Bild, das man von der Stadt haben mag, zerfällt wie ein Spiegel in tausend Teile, die zusammengesetzt eine schönere Stadt zeigen. „Ich habe immer geglaubt, daß das Leben aus 777 Geschichten auf einmal besteht“, heißt es am Anfang. Vermutlich sind es mehr. Detlef Kuhlbrodt

„Amsterdam Gobal Village“. Niederlande 1996, 245 Min. Regie und Kamera: Johan van der Keuken, Musik: Dionys Breukers

Heute: 11 Uhr Kino 7 im Zoopalast, 14 Uhr Delphi; 18.2.: 20 Uhr Arsenal; 19.2.: 17 Uhr Akademie der Künste

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