: Brandwunden
■ Vertrauenssache: "Sick: The Life and Death of Bob Flanagan, Supermasochist" von Kirby Dick im Panorama
Der Filmpalast mit seinen plüschigen kardinalroten Sesseln und den rosagetönten Muschelformen an der Decke ist ein traumhaftes Kino. Daß hier ein Film wie Kirby Dicks Dokumentation „Sick“ läuft, ist nur während der Berlinale denkbar. Und auch, daß die Vorstellung komplett ausverkauft ist, obwohl doch im Untertitel steht: „The Life & Death of Bob Flanagan, Supermasochist“. Ein wenig wundert man sich dann über die Großzügigkeit im Umgang mit fremden Lebensentwürfen, wenn manche Szenen, etwa der auf den Tisch genagelte Schwanz des Protagonisten, begeisterten Zwischenapplaus bekommen. Wer mag das schon, und wenn, warum so viele?
Der Skorpion heilt den Skorpion
Die Geschichte ist recht kompliziert: Seit seiner Geburt litt der 1952 in Kalifonien geborene Flanagan an Mukoviszidose, einer Lungenkrankheit, bei der man langsam an Verschleimung erstickt. In der Regel liegt die Lebenserwartung unter zwanzig Jahren, Bob schaffte es doppelt so lang – dank S/M. Denn durch den Schmerz wurde bei ihm Adrenalin freigesetzt, das genügend Kraft zum Husten gab. Der Skorpion heilt den Skorpion. Nebenher lernte Flanagan auch, jede Qual mit absoluter Körperkontrolle in Lust umzuwandeln, und das ist ja eine gute Sache, gesellschaftlich gesehen.
Aus diesem Grund durfte der Supermasochist jedenfalls seine Piercing-, Nailing- und Hanging- Performances im Kunstbetrieb vorführen. 1994 lag er bei einer Ausstellung des New Museum monatelang als lebende Skulptur im Krankenbett. Gern wurde der Dichter Flanagan auch zu Lesungen eingeladen, wenn über Sex- und Gewaltverhältnisse geredet werden sollte. Meistens hat er aus „Fuck Diary“ ein paar Kapitel vorgelesen, wie ihn seine Partnerin Sheree Rose die ganze Nacht durchgeprügelt oder weit Schlimmeres mit ihm angestellt hat. Das war nicht gerade erbaulich für den kritischen Machtdiskurs: Flanagan fühlte sich nur wohl, solange er litt.
Flanagan war ein Kämpfertyp
Kirby Dick hat den lustigen Masochisten, dessen Körper von Narben und Brandwunden übersät war wie die Holzbank einer Sextanerklasse, bis ans Totenbett begleitet. Seit sich beide Anfang der achtziger Jahre begegneten, sind 150 Stunden Material zusammengekommen, deren Schnitt Flanagan teils noch selbst mitgestaltet hat. Interviews mit den Eltern oder Bobs schwulem Bruder werden von slapstickartigen Songwriter- Parodien unterbrochen. Als Kämpfertyp war Flanagan eher eine Figur wie Wolfgang Neuss, der ebenfalls über seine Verzweiflung lachen konnte. Der Film fängt diese Brechungen und Stimmungswechsel ungeheuer weich auf. Nie nutzt der Dokumentarist den Exotismus seines Gegenübers für schmuddelige Bilder aus, dafür stehen sich die beteiligten Personen auch zu nahe. Sosehr S/M als Vertrauenssache gilt, so vorsichtig nähern sich auch die Bilder dem Sterben an. Der letzte Satz von Flanagan vor seinem Tod lautet „I'll don't understand it...“ Daß das Publikum ihn versteht, liegt am Film und nicht am Leben. Harald Fricke
„Sick: The Life and Death of Bob Flanagan, Supermasochist“. USA 1997, 90 Minuten. Regie: Kirby Dick. Mit Bob Flanagan, Sheree Rose u.a.
23.2.: 23.30 Uhr Atelier am Zoo
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