: Ohne Seifenblasen
Neuwiedenthals Jugendliche fordern Aufmerksamkeit, Streetworker und Jugendzentren ■ Von Ulrike Winkelmann
Der Bürgermeister weilte in Helsinki. Aber die Enttäuschung der Klasse H 9 der Hauptschule Hausbruch darüber, gestern mittag nur von Staatsrat Gerd Hinnerk Behlmer im Rathaus empfangen zu werden, hielt nicht lange an. Denn Behlmer präsentierte sich in aller Aufmerksamkeit und versprach, den ihm überreichten Offenen Brief direkt an Henning Voscherau weiterzugeben.
Zwei Stunden lang hatten die 15- oder 16jährigen Zeit, ihren Forderungskatalog bei Multivitamin und Mineralwasser vorzustellen: Streetworker, Jugendtreffs, Fußballplätze, legale Graffitiwände müßten her nach Neuwiedenthal, um die Jugendlichen vor Langeweile zu bewahren. „Wenn wir nicht nach Hause dürfen, hängen wir eben auf der Straße herum. Und dann kommen wir auf dumme Gedanken“, erklärte eine Schülerin sachlich.
Und wer auf dumme Gedanken kommt, erpreßt auch Geld von anderen Jugendlichen, bis diese vor Verzweiflung nicht weiter wissen. So geschehen im Januar, als der 17jährige Mirco Sch. sich vor die S-Bahn warf, weil er 750 Mark an eine Jugendbande zahlen sollte. Einige der 24 SchülerInnen der H 9 waren mit ihm befreundet.
Zusammen mit Lehrer Harald Stemmler haben die Jugendlichen dieser Klasse seit Mircos Tod Gesellschaftskunde Praxis werden lassen. Erstmalig wagen sie sich mitten in den Polit- und Verwaltungsapparat zwischen Bezirks-Jugenddezernat und Ortsamtsleitung hinein, um, wie sie im offenen Brief schreiben, „die Situation der Jugendlichen im Stadtteil Neuwiedenthal zu verbessern“.
Der einzige Streetworker im 12.000 EinwohnerInnen zählenden Viertel ist dort erst seit vier Wochen eingesetzt, berichteten die SchülerInnen gestern; die Öffnungszeiten des Hauses der Jugend beschränken sich auf die wochentäglichen Kaffeezeiten, weil die Stellen dort nicht besetzt und MitarbeiterInnen schon lange krank sind. Sportplätze dürfen, weil Vereinseigentum, nicht benutzt werden, Schulhöfe sind tabu, weil Hausmeister ihre Ruhe haben wollen. Überall sonst gilt: „Der Rasen soll wachsen“, erläuterte Mario, einer der beiden SprecherInnen der Gruppe.
Behlmer gab sich redliche Mühe, die Zuständigkeiten in solchen Fragen zu klären oder doch zumindest ganz fern vom Senat anzusiedeln: „Meistens sind es die Leute im Viertel selbst, die sich das Leben schwer machen“, meinte er: Wenn es sich beim fürs Fußballspiel begehrten Gelände um Privateigentum handele, könne der Staat nichts machen, und auch Hausmeister hätten ein Recht auf Mittagsruhe. Um in Zeiten angespannter Haushalte weder „Strohfeuer noch Seifenblasen“ zu versprechen, empfahl Behlmer Mitbestimmung und Vereinsmeierei: „Gehen Sie in die Sportvereine, kommen Sie zur Aktuellen Stunde der Ortsausschüsse, beweisen Sie den zähen Atem, den man für bürokratische Entscheidungswege braucht.“
Dies schienen die Jugendlichen durchaus vorzuhaben: „Wir werden auch nicht aufhören“, hieß es. Nach dem Gespräch herrschte auf allen Seiten überraschte Zufriedenheit – soviel Verständnis hatte man sich gegenseitig gar nicht zugetraut. Auf einen Besuch von Voscherau in Neuwiedenthal, sagte Klassenlehrer Stemmler, wolle man jedoch nicht verzichten: „Der soll ruhig einmal kommen. Und zwar bald.“
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