: Outrierte Gefühlskulturisten
Liedgut für alle Lebenslagen: In Frankreich werden Chansons sogar aus der Perspektive aufblasbarer Gummipuppen geschrieben. Neues aus der Wunderwelt der schönen Geste ■ Von Reinhard Krause
Die Franzosen, heißt es, pflegen ihre Stars. Wohl wahr. Nirgends sonst werden Musikstars so flächendeckend mit Gesamtausgaben geehrt wie in Frankreich – von Brel und Brassens (10 bzw. 12 CDs) bis Dalida (10 CDs). Manche Plattenfirmen melken ihre Kunden bis zur Schmerzgrenze – wobei nicht immer zu erkennen ist, ob die Geldgier nicht auch von den Stars selbst ausgeht. So läßt Françoise Hardy kaum ein Weihnachtsgeschäft ohne eine weitere Best-of- Compilation verstreichen, auf der nicht irgendein obskurer Titel zu finden wäre, den es seit Jahren nicht auf Platte gab. Wer Hardy auf Komplettheit sammelt, endet mit 25 Aufnahmen von „Tous les garçons“.
Gesamtausgaben verstorbener Stars sind übrigens lange Jahre erhältlich, während die Werke lebender Gesangslegenden nach zwei, drei Jahren wieder vom Markt genommen werden, etwa France Galls Frühwerk oder die Studioaufnahmen von Jane Birkin. Besonders kurz zu haben war der aus sage und schreibe dreizehn CDs bestehende Koffer mit der kompletten Barbara. Durch ihren Hang zu Live-Mitschnitten und immer wieder überarbeiteten Interpretationen ihrer Erfolge mußte ihr der Titel Mengenkönigin des französischen Chansons allerdings gleich wieder aberkannt werden.
Vor kurzem passierte dann, womit niemand mehr rechnete: Nach sechzehn Jahren erschien das erste Barbara-Studioalbum mit komplett neuem Material. Obwohl erst seit Anfang November auf dem Markt, zählt es in Frankreich zu den fünf meistverkauften Alben des vergangenen Jahres. Inhaltlich bietet „Barbara“ (Philips), so der schlichte Titel, wieder Gefühlskultur auf Hochtouren. Da werden aus profanen Krankenschwestern „Engel mit Sandalen und weißen Hemden“, und der kritische Hörer ahnt, daß Barbara für alles steht, was Chansonverächter schwer erträglich finden: den zu Outriertheit gesteigerten Kult der großen Geste.
Hinzu kommt, daß die 65jährige vokal nicht mehr so geschmeidig ist. Da schnarrt die Stimme bisweilen noch im Keller herum, während die schwierige Partitur schon den nächsten Diskant vorsieht; was der soignierten Künstlichkeit des Vortrags freilich keinen Abbruch tut. Bisweilen legt die stets schwarz Gewandete sogar den Gestus des einsamen „schwarzen Adlers“ (so ein früherer LP-Titel) ab und wird geradezu spaßhaft, so in „Lucy“, wo sie sich fragt, wieso all ihre Männer auf den ersten Blick geistig ganz gesund wirkten, nach kurzer Zeit aber sämtlich einen Stich hatten. Freunde unfreiwilligen Trashs sollten lieber die Augen nach der LP „Barbara singt Barbara“ offen halten, auf der sie sich 1967 hoch konzentriert, aber auch sehr mühselig von Silbe zu Silbe hangelte beim Versuch, deutsch zu singen: „Isch muß Pierre, wenn err kommt, gleisch das mit dem Schuppen sagen, dann da rägnet es seit Tagen schonn raiin.“
Ebenfalls überraschend für die französische Öffentlichkeit kam das neue Album von Etienne Daho. Daho nämlich, hatte die Presse seit einiger Zeit geraunt, sei unheilbar erkrankt – ohne freilich auszusprechen, woran. Eine bereits an Isabelle Adjani mit lüsterner Angst erprobte Art der Anteilnahme. Manchmal pflegen die Franzosen halt ihre Stars halb zu Tode.
Im Fall von Dahos Genesung ist die Überraschung zudem ein wenig gespielt, denn schließlich präsentierte der sich bereits 1995 auf einer gemeinsamen Single mit der englischen Popgruppe St. Etienne in der Pose des Wiederauferstehenden. Nur hieß deren Titel nicht „Résurrection“, Wiederauferstehung, sondern wortspielerisch „Résérection?: „Je résérecte encore et encore“. Ohlala!
Auch auf „Eden“ (Virgin) ist das Thema ausgestandener Gefahr und wiedergeschenkter Lebensfreude allgegenwärtig. Von diesseitigen Paradiesen ist da die Rede und von überwundener Angst, von Fleischeslust und vom falschen Mythos der Sünde. Reflexive Popmusik im Zeitalter von Aids.
Dahos anderes großes Problem war bislang seine hübsche, dunkle Stimme, die leider kaum eine Oktave umfaßt und auch nur Zimmerlautstärke kennt, was in der Vergangenheit oft dazu führte, daß Daho-Songs kuschlig, aber keinesfalls aufregend klangen. Seit dem „St. Etienne Daho“-Projekt und der Arbeit für Brigitte Fontaine hat Daho allerdings zu einem straffen und spannungsvollen Sound gefunden, der seine stimmliche Begrenztheit immer öfter vergessen läßt. Die Arrangements des britischen Altmeisters David Whitaker (er orchestrierte in den Sixties unter anderem Gainsbourgs „Comic Strip“) tun ein übriges, um aus „Eden“ das originellste Pet-Shop- Boys-Album zu machen, das aus Frankreich kommen konnte.
Unbezahlbar aber ist Dahos Einfall, sich auf „Timide intimité“, einem Song über Schüchternheit (ach was: Verklemmtheit), ausgerechnet von den vor hundert Jahren zuletzt gehörten, immer noch taufrisch klingenden Swingle Singers begleiten zu lassen, die in den 60er Jahren supersofte A-cappella-Interpretationen von Bach produzierten, schickste Tafelmusik. Auch lange nichts zu hören war von Wanda Tavares de Casconcelos, besser bekannt als Lio, die in den letzten Jahren als Filmschauspielerin gearbeitet hat. Ihr letztes Album war 1991 von Etienne Daho produziert worden und ein richtiger kleiner Flop. Überhaupt hat Lio in Frankreich das Problem, so gehandelt zu werden wie hierzulande einst Frl. Menke: Alle sehen die dolle Hummel, und keiner hört die zickigen Texte. Jeder erwachsene Mann, der je in Frankreich mit einer Lio-Platte an einer Kasse Schlange stand, weiß, wie maliziös 13jährige Französinnen gucken können. Um so rätselhafter, daß Lio, die in diesem Jahr immerhin die „halbe Siebzig“ feiern kann, auf dem Cover ihrer neuen CD oben ohne posiert. Ist das nun Stolz auf ihre Jugendlichkeit, oder soll das heißen: Ob ihr's glaubt oder nicht, ich hab' schon meine Tage! Wie auch immer, die Platte beginnt mit einem Titel namens „Félix“ und dem tollsten Ätschi-Bätschi- Sound, den Lio seit „Zip a doo wah“ (1983) zustande gebracht hat. Aber auch Ausflüge ins Portugiesische (Lio/Wanda ist Belgo- Portugiesin) erweitern ihr Gesangsspektrum um eine hübsche, gebrochene Farbe – ebenso wie drei japanoide Titel. Geradezu nach Vendetta beziehungsweise „Wandatta“ (so der Titel der bei WEA erschienenen CD) schreien allerdings die Versuche, Lio zur lasziven Rockerbraut zu machen: Rock als Entpersonalisierung. Lio ist allerdings auch selbst schuld, wenn sie so orientierungslos ist, mit „Escapada“ zudem auch noch ein Zehnminutenstück aufzunehmen, das sich anhört wie ein epischer Suchlauf durch die neuesten Tendenzen des Grand Prix d'Eurovision. Wieso die Platte (ebenso wie die vor kurzem erschienenen Lio- Reissues) in Deutschland bloß als teurer Japanimport zu haben ist, weiß auch nur der Kuckuck.
Aber die Franzosen können, wie gesagt, auch anders. Geradezu vorbildliche Editionspraxis beweist der jüngst erschienene Sampler „Gainsbourg chanté par ...“ (EMI Music France): 41 Gainsbourg-Chansons, die seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht erhältlich waren, darunter zwei bislang für verschollen gehaltene Aufnahmen von Catherine Sauvage aus dem Jahr 1961 sowie eine ausgelassene postklimakterische Parodie auf „Je t'aime (moi non plus)“ von Bourvil und Jacqueline Maillan.
Auf ohnehin leicht zugängliche Titel wurde gänzlich verzichtet. Von France Gall etwa finden sich zwei Perlen aus dem Jahr 1972: „Frankenstein“ (sprich: „Fronkenstejn“) und „Les petits ballons“, ein Chanson aus der Perspektive einer aufblasbaren Gummipuppe. Nach dem Skandal um das Dauerlutscherepos „Les sucettes“, das Gainsbourg ihr 1966 angeblich untergejubelt hatte, beweist France Gall hier ihre Komplizenschaft mit dem König des schlüpfrigen Lieds.
Die Mehrzahl der hier versammelten Chansons stammt aus den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, als Gainsbourg noch für jedes Cover dankbar sein mußte (scheußlich: Vicky Autier mit „La chanson de Prévert“), aber auch exzellente Neukompositionen sind darunter wie „Les papillons noirs“ für Michèle Arnaud (1967) und „Enregistrement“ für Françoise Hardy (1976). Einzig drei Punksongs aus den Jahren 1978 und 1980 fallen aus dem insgesamt sehr gepflegten Rahmen: In einer seiner turnusmäßigen Trendkorrekturen hatte Gainsbourg einmal behauptet, er halte die Punkversion des „Poinçonneur des Lilas“ von Starshooter für die beste Fassung. Der Hörer dieser Doppel-CD muß nun damit leben, daß nach Zizi Jeanmaire plötzlich Punkrock losbricht, wie ihn heutzutage Schülerbands spielen. Schöner wäre es gewesen, etwa „L'assassinat de Franz Léhar“ (Die Ermordung von Franz Léhar) von Catherine Sauvage in die Sammlung aufzunehmen oder „Boum badaboum“ von Minouche Barelli, immerhin die beste Grand-Prix- Single aller Zeiten; Monaco 1967.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen