: Ruhige Trauertage in Peking
Groll der Götter und Aufruhr der Menschen bleiben beim Tod Deng Xiaopings aus. Dafür gibt es eine verlegerische Sensation: Jürgen Habermas und Michel Foucault erscheinen erstmals auf Chinesisch ■ Aus Peking Georg Blume
Sechs Tage lang hat das Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas einem Fünftel der Menschheit Trauer verordnet. Sechs Tage trauert China um Deng Xiaoping, den die Parteizeitungen jetzt als „Chefarchitekten“ preisen. Dabei geschieht am sechsten Tag der Trauerwoche aus Sicht von Millionen Chinesen das Unvorhergesehene: Alles bleibt ruhig. Langsam steigt die Sonne über Peking und wirft ihren durch Nebel und Smog getrübten Schein auf das Geschehen der Hauptstadt. In Teilen Nordchinas ist seit Dengs Tod der Frühling eingekehrt. Der angekündigte Groll der Götter, Erdbeben und Schneestürme bleiben aus. Das wundert nicht wenige: „Wenn große Kaiser sterben, brechen Unwetter aus. Es stürmte wochenlang, als Mao starb. Warum ist das heute anders?“ fragt die Hausfrau Qiang Ting.
Die wichtigste Antwort gibt das Fernsehen. Rechtzeitig zum Tod des kleinen Kaisers ist China in das moderne Medienzeitalter eingetreten. Die Beerdigung Dengs wird im ganzen Land im Fernsehen übertragen. Zudem geben sich CNN und das chinesische CCTV die Hand, um das Ereignis zeitgleich in alle Welt zu projizieren. Wer daran teilnehmen will, ob der Reisbauer am Gelben Fluß oder der chinesische Harvard-Professor in Neuengland, kann die Tränen, wenn sie denn kommen, in den eigenen vier Wänden vergießen.
Die mediale Privatisierung der Trauerkultur hat schon am Tag der Beerdigung seltsame Folgen: In dem Land der langen Märsche und großen Paraden bleibt der Platz des Himmlischen Friedens zur Zeit der Feierlichkeiten abgesperrt. Beim Denkmal der Volkshelden, wo nach Maos Tod die Roten Garden aufmarschierten, haben die offiziellen Trauergäste ihre Autos und Busse geparkt. Die versprenkelte Menschenmenge, die sich auf der Changan-Straße entlang des Platzes an die Palisaden drängt, ähnelt einer Ansammlung zufälliger Zaungäste. Ein schwarzgekleideter Mann trägt in strammem Schritt das Tauerplakat Dengs vor das große Mao-Porträt am Tor des Himmlischen Friedens. Weil außer ihm keiner auf die Idee gekommen ist und es sich wohlmöglich um einen Beamten der Staatssicherheit handelt, wird der Mann von Fotografen umringt.
Wandzeitungen sind aus der Mode gekommen
Auch auf dem zweiten großen Versammlungsplatz der Hauptstadt verzichtet das Pekinger Volk auf jede Demonstration von Betroffenheit. Vor dem Hauptbahnhof gehen die meisten ihrer Wege, und nur wenige heben den Kopf, um auf der riesigen Bildschirmwand, die das Bahnhofsgebäude schmückt, das offizielle Trauerschauspiel zu verfolgen. Das Pekinger Stadtleben macht auch dann nicht halt, als um zehn Uhr morgens auf Anordnung der Behörden die Sirenen heulen. Ein Teil der Gleichgültigkeit ist gespielt: Die zivile Sicherheitspolizei in ihren Jeans und Lederjacken wacht an jeder Straßenecke. Da eine offizielle Trauerminute nicht angeordnet ist, bleibt keiner gerne stehen. Andererseits sind Tränen nicht verboten: Sogar Partei- und Staatschef Jiang Zemin wischt sie sich während seiner Trauerrede aus den Augen. Wohlmöglich ist das Desinteresse des Pekinger Volkes, das noch keinen Kaiser ohne Aufruhr verabschiedete, diesmal ehrlich.
Ganz andere Eindrücke vermitteln am Vortag die Fernsehbilder von Dengs Überführung ins Krematorium außerhalb der Stadt. Eine geschlossene Menge säumt die Straßen, herangefahren aus den Stahlwerken der Vorstadt, jeder mit der offiziellen Trauerblume an der Brust. Die Kamera rückt tränenverschmierte Gesichter ins Bild. Das Spektakel aber gehorcht auch hier den Mediengesetzen: Kaum ist der Beerdigungswagen mit dem Fernsehtroß entschwunden, gehen die Menschen zurück an ihren Arbeitsplatz. Es bleibt bei den wenigen Tränen im Fernsehen, die alle sehen.
Obwohl alle chinesische Politik seit Mao einer großen Inszenierung gleicht und die Abendnachrichten von CCTV täglich ein 500-Millionen-Publikum erreichen, ist die professionelle TV- Darstellung politischer Großereignisse für das Land noch neu. Als der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im Mai 1989 vor laufenden Kameras mit den demonstrierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens sprach, versetzte die Macht des Fernsehens die Parteioberen in Angst und Schrecken.
Jetzt zeigt sich, daß die chinesischen Machthaber ein neues mediales Selbstbewußtsein entwickelt haben. Die sieben Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros gefallen sich darin, vor laufender Kamera in einer Reihe vor die aufgebahrte Leiche Dengs zu treten und sich nach konfuzianischer Sitte dreimal zu verbeugen. Da wirken sie wie ein armseliges Häuflein Zurückgebliebener.
Es paßt in die neue Zeit ohne Deng, daß Wandzeitungen – das politische Medium in China schlechthin – aus der Mode gekommen sind. Während der Studentenrevolte 1989 las man von den Stellwänden auf dem Campus der Peking-Universität noch den Zeitgeist ab. Das ist heute nicht mehr vorstellbar. Seit dem Wochenende sind dieselben Stellwände, die unverändert an ihrem Platz stehen, mit rührenden Familienszenen aus einem Deng-Bilderbuch zugeklebt. Über den Bildern prangen die Schriftzeichen: „Genosse Deng, die Professoren und Studenten der Peking-Universität werden dich nie vergessen“.
Beim Blick in den Studentenalltag wird schnell deutlich, was die Pekinger Politik so erfolgreich macht: Während der Trauertage tummelt sich der Elitenachwuchs auf den Tennis- und Basketballplätzen der Universität. In den Studentenkneipen am Campus wird getrunken und gelacht, wie es sich für die ersten Tage im neuen chinesischen Kalenderjahr gehört. Gut besucht ist auch das „Internet Music Cafe“ in der Nähe der Uni. Und Lärm machen nur die Bagger, die im Auftrag eines Hongkonger Tycoons eine große neue Bibliothek errichten.
Studentinnen berichten, wie ihre Professoren schimpfen, weil sie sich schön machen, um des Abends in den großen Hotels nach westlichen Ehemännern Ausschau zu halten. Deng und die große Politik seien für sie kein Thema mehr. „Wir sind noch Kinder und leben in unserer eigenen Welt“, merkt eine Kommilitonin kritisch an. Womit klar sei: Die benachbarte Qing-Hua-Universität, die der Vizepremier und Reformer Zhu Rongji leite, habe der ehrwürdigen Peking-Universität längst den Ruf abgelaufen. Die rote Jubiläumsparole über dem Campus-Tor „1898–1998 – hundert Jahre Fortschritt“ spreche von einer verwelkten Tradition.
Dengs Werke in schummrigen Vitrinen
Nicht nur an der berühmten Universität, Wiege aller modernen politischen Bewegungen im Reich der Mitte, hat Deng seine Spuren verwischt. Mühsam ist auch die Suche nach den Werken des Verstorbenen in den Buchhandlungen der Hauptstadt. Vor dem zentralen Xinhua-Buchladen an Pekings meistbegangener Einkaufsstraße Wangfujing werden kandierte Erdbeeren verkauft. Drei Geschosse muß der Kunde erklimmen, die Computerbuchabteilung und die CD-Sektion durchqueren, bevor er endlich auf einen Sondertresen mit Videofilmen über Dengs Leben und dem offiziellen Trauerplakat stößt. Bücher, mit Ausnahme des bereits besichtigten Bildbandes, gibt es auch hier nicht. Erst wenn der Kunde eine schummrige Glasvitrine entdeckt, hat er die drei Ausgewählten Werke Dengs vor sich. „Es ist eine feudale Praxis, wenn ein Führer seinen eigenen Nachfolger auswählt“, sagt darin Deng in einem Gespräch mit der Journalistin Oriana Fallaci aus dem Jahr 1980. Es lohnt sich durchaus, Deng nachzulesen. Nur keiner tut's.
Vielversprechender erscheint ein paar hundert Meter weiter der Besuch des im September 1996 neueröffneten Sanlian-Buchladens. Statt der mißmutigen und wortkargen Mitarbeiter im alten Xinhua-Laden bedienen sachkundige Buchhändler. Zu Dengs Geschichte wird hier das übersetzte Werk eines US-amerikanischen Sinologen empfohlen. Deng-Plakate führt das hellerleuchtete Bücherhaus nicht, wohl aber eine sensationelle Verlagsneuheit: Beim Volksverlag in Schanghai sind im Januar in einer aufwendig gestalteten neuen philosophischen Edition Erstübersetzungen von Jürgen Habermas, Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu und Jean-François Lyotard erschienen. Die Autoren werden in dem Vorwort der chinesischen Herausgeber als „Meister des modernen Denkens“ gepriesen, und die philosophisch geschulte Buchhändlerin des Sanlian-Ladens fügt stolz hinzu: „Alle fünf Philosophen erscheinen zum erstenmal in chinesischer Übersetzung.“
Der Schanghaier Volksverlag stellt damit pünktlich zum Beginn der neuen Ära unter Beweis, daß China auch ohne Demokratie ins postmoderne Zeitalter vorrückt. In einem der Texte des Buches von Foucault, zuerst erschienen in Le Monde im April 1980, heißt es: „Es ist verständlich, daß es viele Menschen gibt, die über das heutige Vakuum traurig sind. In der Welt der Vernunft sucht man weiter nach neuen Autoritäten. Aber es gibt andere, die neue Töne im Leben entdecken, die nicht mehr traurig sind, daß die Welt ein Fehler und die Geschichte nur voller unwichtiger Leute ist – und sie sind es, die nicht mehr befehlen werden, daß die anderen den Mund halten sollen.“
Foucaults Worte klingen wie eine Prophezeiung für das neue China ohne Deng. Sie trafen, in erster Auflage, am Tag von Dengs Tod in der Pekinger Buchhandlung Sanlian ein. Der Verstorbene könnte es gewußt haben.
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