: Die Chefin in der zweiten Reihe
Die Bedeutung der Grünen wächst schneller als ihre Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen: Heide Rühle, die Bundesgeschäftsführerin, riskiert einen kritischen Blick auf die eigene Partei ■ Aus Bonn Bettina Gaus
„Wir sind gegenwärtig die am meisten überschätzte Partei. Wir haben weder die personellen noch die finanziellen Ressourcen, um den Erwartungen gerecht zu werden.“ Das sagt eine, die es wissen muß: Heide Rühle ist politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen und damit ein gewähltes hauptamtliches Vorstandsmitglied der Partei. „Wir sind inzwischen Meister im Fassadenbauen. Das beherrsche ich perfekt. Aber die Gesellschaft will es ja auch nicht anders. Angesichts des Überdrusses an der Bonner Koalition und der Schwäche der SPD wächst uns eine Rolle zu, für die wir als Gesamtpartei nicht gewappnet sind.“
Derart offene Worte der Kritik an der eigenen Partei sind von Spitzenpolitikern, auch von Grünen, selten zu hören. Zunächst fällt es schwer, den eigenen Ohren zu trauen. Allzu bestimmend ist der trügerische Eindruck von Harmlosigkeit, den die 48jährige mit ihrem ausgesprägten schwäbelnden Dialekt erweckt. Aber dann reiht die mädchenhafte Frau mit den langen roten Haaren, die auch für Ende 30 durchgehen würde, mit verbindlichem, offenen Lächeln einen verbalen Sprengsatz an den nächsten.
Beispiel „grüne Doppelmoral“: Einerseits sei die Partei „medienfixierter als jede andere“, andererseits gelte politische Karriere immer noch als anrüchig. „Wir brauchen unsere Promis, aber wir tragen sie nicht.“ Beispiel Vereinigung: „Unser Problem ist, daß es im Untergrund grummelt, unsere ostdeutschen Landesverbände aber viel zu schwach sind, um eine vernehmbare Stimme zu sein.“ In Sachsen-Anhalt, wo die Grünen an der Regierung beteiligt sind, habe der Landesverband gerade mal 400 Mitglieder. Beispiel Wahlkampf: Da wecke die Partei oft unrealistische Erwartungen. Wenn in Schleswig-Holstein auf Landesebene versprochen werde, den Bau einer Autobahn zu verhindern, das aber Bundeskompetenz sei, dann „fliegt uns das natürlich hinterher um die Ohren“.
Wenn Heide Rühle sich warmgeredet hat, spricht sie schnell. Rastlos wirkt sie dann in ihrem Bemühen, zu warnen, Schaden für die Partei zu begrenzen. Sieht diesen Schaden außer ihr noch jemand kommen? Es ist nicht leicht, die Grünen füreinander zu interessieren.
Zu einer Veranstaltung im hessischen Kommunalwahlkampf ist die Bundespolitikerin nach Marburg gereist. Im sterilen Konferenzsaal des Congress-Zentrums, wo nur eine Stellwand mit dem schwerfälligen Wahlslogan „Grün geht vor“ auf die Veranstalter hindeutet, liest sie der Basis die Leviten. Die Grünen seien eine Partei, „die in jedem Landesverband das Rad neu erfindet und viel zu langsam lernt“, sagt Heide Rühle, die gemeinsam mit hessischen Kommunalpolitikern vorn auf dem Podium sitzt. „Wir haben uns in letzter Zeit zu wenig Mühe gegeben, die verschiedenen politischen Ebenen der Partei miteinander zu vernetzen. Wenn wir 98 Kohl ablösen würden, bekämen wir große Probleme. Da müssen wir jetzt schon ran.“
Ihren etwa hundert Zuhörern in Marburg liegen derartige Überlegungen nicht sehr am Herzen. Die meisten sind kommunalpolitische Aktivisten der Grünen, und sie wollen am 2. März Wahlen gewinnen. Höflich haben sie die Besucherin aus Bonn ausreden lassen. Nur wenig mehr Männer als Frauen sitzen schweigend an den Resopaltischen des Konferenzraumes. Pullover, Bärte und Jeans beherrschen das Bild. Wenn mit der Wahl des eigenen Outfits auch Signale an die Umwelt ausgesendet werden sollen, dann trennen die Versammelten kulturelle Welten von Parteifreunden in Bonn, bei denen die dezente Eleganz gut geschnittener Anzüge in Mode gekommen ist.
Die angriffslustige Analyse der Situation wird ohne erkennbare Regung zur Kenntnis genommen. Keine Hand rührt sich nach dem Redebeitrag von Heide Rühle zum Applaus. Aber es erhebt sich auch kein Widerspruch. Der Tagungsleiter ruft die nächste Frage aus dem Publikum auf. Wie es denn um die kommunale Verwaltungsreform stehe, will einer von der Marburger Spitzenkandidatin wissen, die neben Heide Rühle sitzt. Die Provokation der Bundesgeschäftsführerin lief ins Leere.
Wer bei den Grünen deren innere Verfassung zu seinem Thema macht, hat sich für die Mühen der Ebene entschieden. Jede Äußerung über das Verhältnis zu PDS oder CDU ist für eine über die Medien ausgetragene Grundsatzdebatte gut – für die Strukturen der Partei scheint sich kaum jemand zu interessieren.
Nirgendwo ist es einfach, mit diesem Thema zu landen. „Wir haben die Ostquote, die Frauenquote, die Trennung von Amt und Mandat, und dann gibt es noch den Strömungsproporz. Bei diesem System können wir irgendwann auch die Stellen ausschreiben. Wie demokratisch legitimiert ist die Wahl in Ämter noch?“ Die Frage stellt Heide Rühle in einem Stipendiaten-Seminar der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung. Keiner der Studenten geht darauf ein. Die Mittzwanziger beschäftigt weit mehr die Frage, ob die Grünen nun ein positives Verhältnis zum Staat entwickelt haben und auch dessen Gewaltmonopol vorbehaltlos akzeptieren – eine anachronistisch anmutende Debatte.
Heide Rühle läßt sich mit einem Begriff beschreiben, der heute einen abwertenden Beigeschmack hat und doch ein Tätigkeitsfeld umreißt, ohne das keine politische Kraft auszukommen vermag: Sie ist eine Funktionärin alter Schule, und sie weiß es: „Meine Hausmacht ist in der Arbeitsebene der Partei.“ Geduld hat von jeher zu den Tugenden von Funktionären gehört. So erörtert sie freundlich und ausführlich mit den Studenten die Frage, ob die Grünen tatsächlich auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Nichts läßt erkennen, daß es noch andere Themen gibt, die sie umtreiben.
Zu denen gehört die Überlegung, was geschieht, wenn es denn tatsächlich zu einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene kommt. „Eine Regierungsverantwortung zu übernehmen, bedeutet angesichts der Waigelschen Haushaltslöcher für uns eine riesige Zerreißprobe, weil wir natürlich wissen, daß wir die Reformen nicht machen können, die wir immer gefordert haben“, sagt sie später. Die rechnerische Mehrheit bedeute ja auch noch längst keine gesellschaftliche Mehrheit für rot-grüne Programme. Deshalb hält sie auch die Aufforderung an die SPD, eine eindeutige Koalitionsaussage zu treffen für „bescheuert. Völlig bescheuert.“ Ein Teil der grünen Wähler wolle eine solche Koalition ebensowenig wie zahlreiche Stammwähler der SPD. „Es besteht ja auch die Gefahr, daß wenn die SPD zu sehr auf Rot-Grün setzt, ein Teil ihrer Wähler ganz an den rechten Rand abwandert, wo sie dann von keiner anderen Partei mehr abgeholt werden kann.“
„Im gesamtgesellschaftlichen Interesse“ sei es dennoch notwendig, sagt Heide Rühle, für den Wechsel zu kämpfen. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Natürlich haben wir auch ein biographisches Problem. Die 68er unter uns wissen, daß der Machtwechsel bei den nächsten Wahlen ihre letzte Chance ist.“
Nutzt es der Partei – schadet es der Partei? Diese Überlegung bestimmt die Haltung der grünen Bundesgeschäftsführerin zu jedem Thema. Sie, nicht Fraktionssprecher Joschka Fischer, ist der Herbert Wehner der Grünen. Dessen Ausspruch wurde zum geflügelten Wort, er werde den Karren so lange ziehen, „wie der Karren es will“. Hätte das auch für ein Gefährt gegolten, dessen einzelne Räder in unterschiedliche Richtungen streben? Heide Rühle bleibt da kaum eine Wahl, will sie in ihrer Partei weiter Einfluß nehmen.
Die hohe Bedeutung, die sie Strukturen beimißt, mag ein Erbe erster politischer Aktivitäten sein. Als junge Frau gehörte Heide Rühle einer kommunistischen Splittergruppe an. „Ich war Mitglied bei den Spätzles-Maoisten.“ Sie trat aus, weil „sehr wenig kritische Töne zugelassen wurden“. Der Prozeß der Ablösung war schmerzhaft: „Man hat von heute auf morgen seine sozialen Zusammenhänge verloren. Man wurde nicht mehr gegrüßt.“ Damals wollte Heide Rühle lange nichts mehr von aktiver Politik wissen.
Heute ist sie Berufspolitikerin – also genau das, was die Grünen einstmals in ihren Reihen nie zulassen wollten. Einen Weg zurück gäbe es für sie nicht. Zwar hat sie eine Ausbildung als Psychologin, aber auf diesem Feld war sie weniger als zwei Jahre lang tätig. Dann kamen die beiden Kinder, heute erwachsen, und mit ihnen neben dem Engagagement in der Frauenbewegung auch das geschärfte Bewußtsein für Umweltpolitik.
Sie kennt die Partei auf allen politischen Ebenen. 1984 kandidierte die Ehefrau eines Ingenieurs in Stuttgart für den Kreisvorstand. Damals war sie noch nicht einmal Mitglied bei den Grünen: Die Partei hatten nicht genug Frauen als Kandidatinnen, um die Quote zu erfüllen. Drei Jahre arbeitete sie als Landesvorstandssprecherin, dann als Sprecherin im Bundesvorstand, und seit Sommer 1991 hat sie ihr jetziges Amt inne.
„In der zweiten Reihe bin ich völlig unersetzlich“, sagt Heide Rühle und lacht selbstbewußt in sich hinein. Und sie ist glaubhaft, wenn sie betont, daß sie in die erste Reihe auch gar nicht wolle. Wer macht ihr in ihrem eigenen Bereich schon Konkurrenz?
Ohnehin gebe es „ein ganz großes Defizit auf der Ebene mittlerer Funktionäre“. Außerhalb der eigenen Partei ist die grüne Bundesgeschäftsführerin noch immer weithin unbekannt. Das offiziöse Munzinger-Personenregister führt sie gar nicht erst. Im gut sortierten Archiv des Deutschen Bundestages kommt sie mit wenig mehr als ein paar Interviews vor. Kaum erstaunlich: Der Terminkalender der Politikerin ist mit unspektakulären Verabredungen gefüllt. Gespräche mit dem Jugendverband, Aufsichtsratssitzung der parteieigenen Stiftung, Pressekonferenz zur neuen Kampagne für Mitgliederwerbung.
Die Fäden im Hintergrund zu ziehen liegt Heide Rühle mehr als der Auftritt vor Fernsehkameras. Dabei weiß sie genau, wohin sie will. Das nächste Ziel: die Führungsspitze bei den Grünen zu verändern. „Ich möchte einen professionellen Rumpfvorstand und darum herum ein Präsidium, in dem die wesentlichen Köpfe der Partei sitzen, egal, ob sie ein Amt oder ein Mandat haben.“ Davon erhofft sie sich eine Stärkung der Parteiseite gegenüber den Parlamenten, „weil ich ihr damit eine politische Beratung organisiere, die sie anders gar nicht bezahlen könnte“.
Ganz nebenbei schlachtet sie damit auch noch die heilige Kuh der Trennung von Amt und Mandat. Sie wird es wohl schaffen. „Normalerweise setze ich die Sache auch um, für die ich stehe“, sagt Heide Rühle. Sie sagt es so, wie sie fast alles sagt: freundlich, milde und unbeirrbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen