: Rhetorische Kreuzzüge nach Gorleben
Bürgerschaft beweist emotionales Engagement in Atommüllfragen ■ Von Ulrike Winkelmann
Offenbar hatte die Hamburger Bürgerschaft morgens gemeinsam Radio gehört. Anders läßt sich kaum erklären, warum sich die Fraktionen zum Thema Castor fern jeder sachdienlichen Argumentation abends ein struktur- und wortwahlgleiches Gefecht liefern mußten wie ihre großen Geschwister in Bonn. Dabei hatte Holger Matthews, energiepolitischer Sprecher der Grünen, am Donnerstag nichts weiter gefordert, als daß die Transporte der Atombehälter verhindert werden müßten. Nicht zuletzt würden die Polizeibeamten „unnötigerweise gesundheitlichen Risiken durch die radioaktive Strahlung des Castorbehälters ausgesetzt“. Im übrigen gelte dem wendländischen gewaltfreien Widerstand die Sympathie der GAL. Innenminister Kanther bezeichnete Matthews als „durchgeknallt“.
Ob solch geschliffener Kritik wachte die Große Koalition augenblicklich aus ihrem bereits zwei Stunden währenden Dämmerschlaf auf. Jens-Peter Petersen, SPD, warf das „Durchgeknallt“– unbeeindruckt vom sanft mahnenden Klingeln seitens des Bürgerschaftspräsidiums – Matthews zurück an den Kopf und legte nach: Von „bodenloser Scheinheiligkeit“zeuge es, wenn ausgerechnet die Grünen sich um die Gesundheit von Polizisten Sorgen machten. Seine Fraktion teile mit den Grünen zwar das Ziel des Atomausstiegs. „Ihnen jedoch“, so Petersen, „ist jedes Mittel recht. Wir dagegen sind für den legalen Weg!“
Das Klatschen und Zwischenrufen nahm kein Ende mehr, als CDU-Gymnasiallehrer Hartmut Engels Petersen zu seiner „mutigen Rede“gratulierte und verkündete, er sei „fast sprachlos“ob der Enthüllung: Die Grünen seien Antidemokraten. „Ich vermisse den Aufschrei der Intelligenz, der moralingetränkten Dichterfürsten“, rief Engels an deren Stelle und verwies darauf, daß auch die SED-Nachfolgepartei PDS im Wendland über die Polizei herfallen werde.
Hier wollte Stattianer Dieter Obermeier nicht nachstehen und warf der GAL „ideelle Unterstützung“der militanten Atomgegner vor. Eine Zwischenfrage des GAL-Abgeordneten Martin Schmidt konnte er während seines rhetorischen Kreuzzugs unmöglich zulassen (CDU: „Bravo!“).
Vergebens das Bemühen des Vorsitzenden GALiers Willfried Maier, sich den „Hysterisierungsgrad“seiner Parlamentskollegen zu erklären: Der Hinweis darauf, daß „die Straße“durchaus gegen parlamentarische Entscheidungen demonstrieren dürfe, ging in Geschrei unter. Maier mußte sich um Kürze bemühen: „Erst muß die Entscheidung zum Atomausstieg fallen, dann können wir über eine Endlagerung reden. Bis dahin werden wir dagegen kämpfen!“
Atomsenator Fritz Vahrenholt beschränkte sich zu guter Letzt darauf festzustellen, daß die Strahlenbelastung durch den Castortransport nicht höher als die „natürliche Belastung“sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen