Erzkonservatives Modell

■ betr.: „Elend der Psychiatrie“, taz vom 17.2. 97, „Xenophile Ausfälle“, Leserinbrief, taz vom 24. 2. 97

Ulrike Meyer fordert das „Rübe ab“ mit anderen Mitteln. [...]

Die Forderung, aus dem Vermögen der Täter einen Fonds zur Opferbetreuung zu finanzieren, verknüpft zwei Problemstellungen miteinander, die nach meiner Ansicht nicht verbunden werden können. Die von Ulrike Meyer bevorzugte „Lösung“ mag vielleicht dem Opfer eines Sexualdeliktes helfen. Wer aber meint, einem Sexualstraftäter durch den Griff in sein Vermögen einen Begriff zu verschaffen davon, was er angerichtet hat, der verweigert der Tatsache die Anerkennung, daß Gewalttäter in ihrer Mehrheit – Sextourismus hin oder her – der psychologischen Betreuung bedürfen, und sei es nur deshalb, damit das betroffene Opfer die einzige Person bleibt, die jemals durch eine Tat des zu therapierenden Straftäters betroffen wird.

Daß die Betreuung der Opfer von Straftätern schändlich vernachlässigt wird, steht dabei außer Frage. Hier aber sind Konzepte gefragt, die – abgesehen vielleicht von Ansprüchen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld – von der Person des Täters losgelöst sind.

Unser gesamtes Strafvollzugskonzept beruht auf dem Versuch, einen straffällig gewordenen Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Davon darf unter gar keinen Umständen abgewichen werden. Thorsten Szallies, Hamburg

Der Beitrag von Micha Hilgers über den Umgang mit psychisch kranken Straftätern zementiert Mißverständnisse und relativiert Vorurteile, statt sie aufzubrechen und einer öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen. Die Hinweise auf die Vorstellungen und Arbeitsweise der niederländischen KollegInnen werden von ihm leider nicht für die hiesige Debatte fruchtbar gemacht. Seinem Hinweis auf die Liberalisierung des Strafvollzugs muß hinzugefügt werden, daß das Anfang der siebziger Jahre entstandene Resozialisierungsverständnis schon in den achtziger Jahren zu reiner Kosmetik verkam.

Es erreichte – anders als wenigstens teilweise in der Psychiatrie – im Strafvollzug nie ein Niveau ernst gemeinter Reintegration von Menschen in tragfähige soziale Strukturen wie in Holland oder Dänemark. Die notwendigen sozialen Netzwerke waren, kaum angedacht, der Rotstiftpolitik schon wieder zum Opfer gefallen.

Neue Behandlungsformen für psychisch kranke Straftäter sind in Deutschland nur vereinzelt versucht worden, ein politisches Interesse an dieser Randgruppe hat es nicht gegeben. Methodische Innovation wurde gebremst durch scheinbar fachlich begründete Vorbehalte wie: „Zu Therapie und günstiger Prognose gehört Freiwilligkeit.“ Solche Sätze sind eine beliebte Form psychotherapeutischer political correctness, weil sie als perfekte Abwehrmechanismen funktionieren, und zugleich logischer und psychologischer Unsinn: Therapie bedeutet wesentlich, Einsicht in Leiden machende seelische Dynamik und biographische und aktuelle krank machende Ereignisse und Lebensbedingungen zu ermöglichen – die dann ja nicht zugleich vorausgesetzt werden kann. In meiner eigenen Arbeit mit Sexualstraftätern seit vielen Jahren gibt es vom Verlauf und vom Ergebnis her keinen Unterschied zwischen denen, die eine Therapieauflage haben, und allen anderen „freiwilligen“ PatientInnen, die oft genug von FreundInnen, PartnerInnen oder Arbeitgebern angestoßen oder unter Druck gesetzt werden, in die Therapie zu gehen.

Nicht zu übersehen ist, daß die Professionalisierungsdebatte in den letzten 15 Jahren zu einer eigenartigen entsolidarisierten Selbstdefinition der im sozialen Feld tätigen ExpertInnen geführt hat: Abgrenzung von den KlientInnen, so notwendig sie immer ist, wurde ein fokales Schlagwort und ersetzte bei den meisten das persönliche Miteinander, das engagierte Mitgefühl, und sie verscheuchte die für niederländische Sozialarbeiter so auffällig typische, in den siebziger Jahren auch hier noch vorherrschende Verbindung von persönlichem, beruflichem und politischem Selbstverständnis. Solange therapeutische Kollegen – oft genug in den letzten Wochen zu hören – Sexualstraftäter als „eklig“ bezeichnen, „an denen ich mir meine Hände nicht schmutzig mache“, ist die menschliche Basis für veränderte Formen des Umgangs mit solchen Menschen brüchig.

Eine „wirkliche Heilung“ ist bei kaum einer seelischen Erkrankung möglich und auch nicht das Ziel von Intervention, dazu sind in aller Regel die biographischen Beschädigungen zu dramatisch und folgenschwer, nicht nur bei psychisch kranken Straftätern. Auch läßt sich weder theoretisch noch ätiologisch, noch praktisch erfolgreiche Therapie im Sinne einer Veränderung von Bedürfnissen, Bearbeitung traumatischer Konfliktmuster, Verhaltenstraining und sozialer Integration als illusionär begründen. Wer behauptet, die psychotherapeutische Aufarbeitung schwerer Gewalttaten sei eine Illusion der Behandler, disqualifiziert die diesem Feld bemühten und in ihrer Arbeit erfolgreichen KollegInnen und hilft der notwendigen Öffnung der Diskussion nicht.

Das von Hilgers angebotene Modell der Veränderung ist erzkonservativ, weil es auf traditionelle autoritäre Ausgrenzungsmanöver und pseudoliberale Argumentationsmuster zurückgreift. Auch psychisch kranke Straftäter sind Gewalttäter, deshalb ist eine Verschärfung des Strafrechts sehr wohl eine angemessene und notwendige gesellschaftliche Reaktion auf ihre Straftaten, die zu ergänzen ist durch eine andere, sozialarbeiterische. Hilgers' Vorschläge bleiben dem immer noch vorherrschenden psychiatrischen Selbstverständnis als Zucht-Haus verhaftet, sie fallen hinter die von ihm selbst zitierten hoffnungsvollen Alternativen niederländischer KollegInnen zurück: Konfliktfähigkeit erhöhen, Alltagskompetenzen lernen, Persönlichkeit entwickeln, statt Behandlung; soziale Integration durch stützende Netzwerke statt Heim; fachkompetentes und begleitendes Auffangen und Abfedern in Krisensituationen statt Hospitalisierung; offene Stützsysteme, psycho- und sozialtherapeutische Angebote statt Psychiatrisierung.

Im übrigen fehlt in Hilgers' Überlegung die vielleicht wichtigste, die Seite der gesellschaftlichen Verantwortung. Solange Jugendliche mit ihrer über medialen sex and crime gewonnenen Geschlechtsrollenidentität alleine gelassen werden; solange eine pharisärhafte und verlogene Sexualmoral in der Werbung nahezu jede Anmache mit ihrem versteckten Gewaltpotential zuläßt, ihre individuelle Realisierung aber unter Strafe stellt; solange Reisegesellschaften Männern ermöglichen, ihre Gewaltphantasien in Asien und Afrika auszuleben, und zugleich jede Mitverantwortung von sich weisen; solange kommt jeder Ansatz der Veränderung dem Löschen eines Waldbrandes mit dem Wassereimer gleich. Günter Rexilius,

Psychotherapeut und

Privatdozent an der Bergischen

Universität Wuppertal