: Der Spielort als Factory
Der Regisseur Thomas Ostermeier und der Dramaturg Jens Hillje rufen den Generationswechsel aus. In der Baracke des Deutschen Theaters Berlin widmen sie sich ohne Zwang zur Distinktion der zeitgenössischen Dramatik ■ Von Petra Kohse
Der Intendant ist immer in der Nähe. Sogar vor seiner eigenen Premiere steht er bei der Kasse, um zu gucken, wer kommt, hält sich dann im Foyer auf und schlüpft schließlich als letzter in den Zuschauerraum, wo er ganz hinten Beobachtungsposten bezieht. Natürlich ist Thomas Ostermeier nicht wirklich ein Intendant, die Kasse kaum mehr als ein Fenster zur Straße und das Foyer ein Gang zwischen dem garagenähnlichen Theatergebäude und diversen Containern. Wobei es nicht um Off-, sondern um Staatstheater geht: Die Baracke gehört zum Deutschen Theater in Berlin.
Seit dieser Spielzeit leistet sich Thomas Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters und der Kammerspiele, eine Nebenspielstätte mit eigener künstlerischer Leitung. Und das, obwohl er in kulturpolitischen Gesprächsrunden zum Steinerweichen über gekürzte Subventionen klagt und der Berliner Kultursenator Peter Radunski im letzten Herbst ganz klar die Devise ausgegeben hat, die Berliner Theater hätten sich auf ihren „Kernauftrag“ zu konzentrieren.
Aber die Umstrukturierung der Baracke von einer Probebühne zum „Projekt“ ist weder in selbstmörderischer Absicht erfolgt noch ein Akt zivilen Ungehorsams. Vielmehr finanziert sich das Ganze durch den Förderverein des Deutschen Theaters. Da auch der Vorstandsvorsitzende des Berliner Chemiekonzerns Schering hier Mitglied ist, konnten hinter dem Flachbau an der Schumannstraße in drei von Schering gestifteten Containern eine Bar, Schauspielergarderoben und Toiletten eingerichtet werden. Für die Produktionen und die Gagen des künstlerischen Leitungsteams stellt der Förderverein monatlich etwa 10.000 Mark zur Verfügung, die Schauspieler und Techniker werden aus der Mannschaft des Deutschen Theaters rekrutiert.
Ein neuer Typus von Theatermachern
Das Team ist ziemlich klein. Neben dem „Intendanten“ und Regisseur Thomas Ostermeier gibt es noch den Dramaturgen Jens Hillje und, seit kurzem, den Regisseur Stefan Schmidtke. Alle drei sind unter 30 und stehen vielleicht für einen neuen Typus von Theatermachern, der ohne Zwang zur Distinktion nach dem eigenen Stil und den eigenen Themen sucht.
„Wir sind eigentlich schon eine Generation später als die Hartmanns und Haußmanns“, sagt der 28jährige Ostermeier, der letztes Jahr die Regieklasse der Berliner Ernst-Busch-Schule beendete und sein Haar nach Art des Hauses kurzgeschoren trägt. Mit „wir“ meint er in erster Linie sich selbst und den 29jährigen Jens Hillje, den er noch aus seiner Schulzeit im fränkischen Landshut kennt. „Wir schöpfen nicht mehr aus dem Geist von Klassikerzertrümmerung. Vielmehr versuchen wir, neue Texte von jungen Autoren zu spielen, und gucken erst mal, ob die Geschichten, die sie vorschlagen, eine kühne Behauptung haben.“ „Kühn“ ist ein Lieblingswort von Thomas Ostermeier, der gern amerikanische Hardcore-Musik hört, den „sozialen Kahlschlag“ in Deutschland beklagt, Lyrik mag und sich auch sonst nicht so leicht einordnen läßt. Wer letzten Herbst seine Diplominszenierung „Recherche Faust/Artaud“ gesehen hat, konnte sich nur wundern, daß er jetzt ausgerechnet ans konservative, psychologisch-realistisch geprägte Deutsche Theater gegangen ist.
Denn diese durch Artaud inspirierte Variation auf das „Faust“- Fragment von Georg Heym, die als deutsch-französische Koproduktion auch zum Festival d'autumn nach Paris und zum Festival für zeitgenössisches Theater nach Bern eingeladen wurde, war so kraftvoll antipsychologisch und bildmächtig-chorisch gearbeitet, daß man ihm eher eine Karriere am Berliner Ensemble vorhergesagt hätte (wo die Zeichen vor dem Rausschmiß Einar Schleefs und dem Rücktritt des Intendanten Martin Wuttke durchaus noch auf Aufbruch standen).
Tatsächlich wäre das Berliner Ensemble für Thomas Ostermeier damals „eine Möglichkeit“ gewesen, es hätten auch Gespräche stattgefunden, erzählt er. „Aber am Deutschen Theater reizt mich, daß ich hier nicht nur Inszenierungen machen, sondern das ganze Profil eines Raumes gestalten kann. Auch habe ich hier eine Ästhetik, an der ich mich reiben kann.“
Jetzt leitet Ostermeier, der vor seinem Studium bereits mit Einar Schleef gearbeitet hat und als Student Assistent von Manfred Karge war, also die Baracke und schichtet auf engstem Terrain die Genres übereinander: Regelmäßig gibt es Diskussionen im „Streitraum“, Konzerte im „Musikraum“, Videoarbeiten im „Kunstraum“ oder schauspielerische Improvisationen im „Werkraum“. Klingt die Nomenklatur auch ein bißchen nach studentisch-selbstverwalteter Interdisziplinarität, so steckt doch ein professionelles Konzept dahinter – mit dem Ziel, den Spielplan kostengünstig zu füllen, ein möglichst breitgefächertes Publikum anzuziehen, die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur fließend zu halten und den Spielort als Factory zu etablieren.
Unterhaltungstheater will gekonnt sein
Zur Eröffnung zeigte Ostermeier Nicky Silvers „Fette Männer im Rock“, ein groteskes Boulevardstückchen, dessen Figuren jedoch so kunstvoll ernst genommen wurden, daß sie trashigen Glam entwickelten. Auch zeitgenössisches Unterhaltungstheater will gekonnt sein, und wer die entsprechenden hölzernen Versuche des restlichen Hauses gesehen hat, etwa Klaus Chattens „Sugar Dollies“ in der Regie der Brecht-Enkelin Johanna Schall in den Kammerspielen, kann Thomas Ostermeier schon dafür nicht genug preisen.
Am Sonntag nun hatte „Messer in Hennen“ Premiere, das erste Stück des schottischen Autors David Harrower (Jahrgang 1966), das 1995 in Edinburgh uraufgeführt wurde. Es handelt sich um eine düster-archaische Parabel auf die Frage, ob es schlimmer sei, die Welt zu erkennen oder in ihr bloß zu vegetieren. Nach mehr als 200 Jahren soll die Aufklärung neu diskutiert werden: Sündenfall oder Weg ins Himmelreich? Das ist nun eine eher müßige Frage, gleichwohl ist das Stück vertrackt.
Der Pflüger William und seine Frau, arme Leute auf ihrer Scholle, wollen beide nicht sein, was sie sind. Ihre Fluchtbewegungen jedoch zielen in verschiedene Richtungen. William erlöst sich in einer animalischen Sinnlichkeit (ob er Sex mit seiner Stute hat oder es im Stall mit anderen Frauen treibt, bleibt offen), seine Frau indessen hat es nicht so leicht: Sie drängt es nach Erkenntnis. Die Worte, die sie kennt, reichen nicht aus, zu beschreiben, was sie sieht. „Das Kaninchen rennt. Die Wolken ... rennen? ... wachsen? Die Blätter am Baum – ... hängen? Der Himmel – ... der Himmel ...“
Nun gibt es auch noch den Müller. Die Leute im Dorf hassen ihn, weil er den Elften vom Korn nimmt, obwohl die Arbeit doch vom Mühlstein gemacht wird. Daß er seine Zeit außerdem dazu nutzt, zu lesen und zu schreiben, macht ihn vollends suspekt: Teufelszeug. Mit diesem Mann nun erlebt die Frau einen kleinen Bildungsroman. In der Mühle schreibt sie zum erstenmal ihren Namen und konfrontiert sich auch mit den Stallneigungen ihres Mannes.
Mit geradezu traumwandlerischer Folgerichtigkeit kommt es, wie es kommen muß: Die Frau und der Müller bringen William um, schlafen miteinander und gehen beide ihrer trostlosen Wege. Der Müller will in „die Stadt“, wo die Leute „jeden Tag über alles sprechen, was es gibt in der Welt“. Was daraus wird, kann man sich denken. Die Frau aber bleibt zurück, glaubt nun, stückweise die Welt zu erkennen, die sie umgibt, hält am Ende den Füllfederhalter des Müllers in der Hand und sagt: „Das Dorf braucht einen neuen Müller.“
Eine dankenswert offene Inszenierung
Ob sie sich selbst damit meint, sie ihre neue Intellektualität bald also mit Einsamkeit und Anfeindung bezahlen muß, bleibt in Ostermeiers Inszenierung offen. Wie dankenswerterweise überhaupt vieles offen bleibt. Auf der mit dunklen Sägespänen bedeckten Bühne (Johanna Pfau) vollzieht sich die Handlung unkommentiert. Keine Figur setzt der Regisseur ins Recht oder Unrecht, die Beziehungen werden nicht psychologisiert. Die These, daß Dinge zu benennen so grausam sei, wie Messer in Hennen zu stecken, stellt er – zur freien Übertragbarkeit – einfach in den Raum.
Daniel Morgenroth spielt William: laut, derb, dumpf. Tilo Werner gibt den Müller: zart, wieselig, sehnsüchtig. Und Petra Hartung ist die junge Frau. Wenn sie zu Anfang mühsam nach Worten sucht, gewinnt sie aus dem jeweiligen Stocken tatsächlich eine rührende Unschuld. Mit weiten, ungelenken Bewegungen greift sie nach der Welt, die sie nicht benennen kann, um später einen Stapel Papier zu umfassen wie einen Laib Brot (oder eine Henne!), von dem sie sich mit dem Stift beim Schreiben etwas abschneidet. Das eigentlich ist die Entdeckung dieses Abends: Petra Hartung, die man so gut noch nie gesehen hat. In der Schnelligkeit einer Antwort gibt sie der jungen Frau plötzlichen Witz, klassenkämpferische Aufmüpfigkeit in einer Geste, dann wieder religiöses Schwärmertum ausgerechnet in einem lüsternen Blick.
Thomas Ostermeier hat sich als handwerklich souveräner Schauspieler-Regisseur in der Baracke positioniert. Die „kühne Behauptung“, die er in der zeitgenössischen Dramatik sucht und die er mehr schätzt als die ästhetische Neuformulierung von Klassikern, hat er allerdings noch nicht gefunden.
„Messer in Hennen“ von David Harrower. Regie: Thomas Ostermeier. Bühne: Johanna Pfau. Mit Petra Hartung, Daniel Morgenroth, Tilo Werner. Baracke des Deutschen Theaters Berlin
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