: Lesen und lesen lassen
■ Zur Veranstaltungsreihe anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Gruppe 47 im Literarischen Colloqium Berlin
„Und dann fielen sie über ihn her, und es blieb wenig übrig.“ Nicht etwa Aasgeiern, sondern der Gruppe 47 schaute der junge Günter Grass bei der kritischen Arbeit nach einer Lesung zu. Die informelle, von Hans Werner Richter beseelte Gruppe („Dichter und Richter“) war in jenem Frühjahr 1955 bereits eine Institution, ihre Tagungen – 28 sollten es werden in den 20 Jahren ihres Bestehens – galten als Leistungsschau der deutschsprachigen Literatur. 50 Jahre nach der Gründung der Gruppe 47 widmet ihr das Literarische Colloquium fünf hochrangig besetzte Veranstaltungen.
Bereits am letzten Montag unterhielt sich Günter Grass mit Walter Höllerer und Peter Bichsel über „Die Tagungen als Lesewerkstatt“ (siehe taz vom 5.3.). Der 1955 wegen seiner Gedichte eingeladene bildende Künstler Grass hörte damals „Wunderworte wie Fischer Verlag oder Suhrkamp“. Verleger, Lektoren, Kritiker, Zeitungs- und Rundfunkleute waren anwesend, schlossen Verlagsverträge, verabredeten Features und Feuilletons. Über „Die Gruppe 47 und der Literaturbetrieb“ sprechen heute abend der Schriftsteller Jürgen Becker, der Kritiker Roland H. Wiegenstein und Heinz Friedrich, Mitstreiter von Richter seit den ersten Tagen, später Verleger des Deutschen Taschenbuch Verlages. Leider ist nicht daran gedacht, eine der charakteristischen Rundfunkaufnahmen von einem Treffen zu präsentieren.
Die Politik blieb während der Lesungen, das setzte Richter immer wieder durch, ausgespart. Die moralische Intervention geschah nach Dienstschluß: Resolutionen wurden abends abgefaßt. In den politisierten sechziger Jahren erschien diese Trennung immer unhaltbarer. Der SFB-Kulturchef Hanspeter Krüger befragt am nächsten Dienstag F.C. Delius, Klaus Wagenbach und Hans-Christoph Buch, damals allesamt sehr engagiert, zur „Gruppe 47 und die Politik“. Das ist eine kleine Sensation: Erstmals seit 1973, als sich der Rotbuch Verlag vom Verlag Klaus Wagenbach abspaltete, sitzen Wagenbach und der ehemalige Rotbuch-Lektor Delius wieder gemeinsam an einem (öffentlichen) Tisch. Ob das Werkstattgespräch, die Verständigung von Autoren und Kritikern, in Echtzeit und realer Präsenz heute überhaupt noch zeitgemäß ist, darüber wird sich Martin Lüdke am 18. März mit den SchriftstellerInnen Dagmar Leupold und Burkhard Spinnen sowie dem Kritiker Reinhard Baumgart unterhalten.
Nach Reisen in die USA und Schweden fiel das letzte Treffen der Gruppe 47 1968 in Prag aus – die Sowjetpanzer waren vorher da. Den internationalen Ruf des literarischen Salons erörtern am 25. März die italienische Verlegerin Inge Feltrinelli, der Germanistikprofessor Gustav Korlén, der die Gruppe 47 nach Schweden einlud, und Peter Härtling im Gespräch mit Michael Krüger. In dessen Hanser Verlag erscheinen in diesen Tagen Erinnerungen von Barbara König an Hans Werner Richter. Aber wer mag nach so vielen Gesprächen noch lesen? Jörg Plath
Alle Veranstaltungen jeweils um 20 Uhr im Literarischen Colloquium, Sandwerder 5
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