„Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit“

■ Präsident Boris Jelzin fällt ein vernichtendes Urteil über den russischen Staatsapparat und warnt Bürokraten und Politiker vor „Tendenz zur Verfettung“

Moskau (taz) – „Genug ist genug, es ist höchste Zeit, Ordnung wiederherzustellen“, sagte Präsident Jelzin in seinem jährlichen Bericht zur Lage der Nation vor Rußlands Staatsduma. „Und ich werde das auch tun“, kündigte der sichtlich genesene Kreml-Chef an. In seinem ersten längeren Auftritt in der Öffentlichkeit nach acht Monaten sporadischer Präsenz malte Jelzin ein klares und unverbrämtes Bild der Verhältnisse in seinem Land. „Rußland hat das Jahr 1997 mit einer schweren Problemlast begonnen. Die Situation ist extrem schwierig.“

Ausführlich ging der Präsident auf die Mißstände im Sozialbereich ein und kritisierte die Regierung unter Premier Wiktor Tschernomyrdin, daß es ihr trotz wiederholter Versprechungen nicht gelungen sei, den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Nach wie vor warten Arbeiter, Angestellte und Rentner monatelang auf ihre Bezüge. „Die Struktur und Zusammensetzung der Regierung muß verändert werden“, sagte Jelzin. Kompetente und tatkräftige Leute sollten das Ruder übernehmen. Personelle Veränderungen wolle er in den nächsten Tagen bekanntgeben. Der Präsident bemühte sich auffallend, den Eindruck zu erwecken, nicht nur bei Kräften zu sein, sondern die Aufgabe des Staatslenkers wieder voll und ganz im Griff zu haben.

Mit Bürokratie und Staatsapparat ging er hart ins Gericht. Sie täten nur so, als würden sie die Probleme angehen. „Willensmangel, Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und Unfähigkeit“ sind die Eigenschaften, die die Bürger an den jetzigen Machthabern ausmachen. „Ich muß gestehen, das trifft auch zu.“ Will der Kreml-Chef der unverblümten Kritik Taten folgen lassen, müßte er das gesamte Kabinett entlassen. Grundsätzlich stellte er eine Tendenz „zunehmender Verfettung“ fest, von der er auch die Abgeordneten des Parlaments nicht ausnahm, die es ihm mit lautem Raunen und gequältem Mienenspiel quittierten.

Wie schon in den Vorjahren verlangte er unbeugsames Vorgehen gegen Kriminalität und Korruption, „die sich auf allen Ebenen der Macht“ eingenistet haben. „Marktverhältnisse machen sich in Bereichen breit, wo sie eigentlich tabu sein sollten.“ Dazu gehören Gesetze, Beamte und Gerichtsentscheidungen – alles sei käuflich. Sein Fazit: Ordnung lasse sich nur herstellen, wenn gleichzeitig im Staatsapparat aufgeräumt würde.

Aus der Feder seines Stabschefs Anatolij Tschubais, dessen deutliche Handschrift die Rede trägt, stammt wohl auch die Erkenntnis: „Trotz eines anderen politischen Systems haben wir es nicht mit neuen Leitungsinstrumentarien ausgestattet, noch gelernt den Staat auf neue Weise zu regieren.“ Ein Hinweis auch auf den Führungsstil Tschernomyrdins, dem womöglich Tschubais als neuer Vizepremier zur Seite gestellt wird.

Der Präsident – kaum auf den Beinen – neigt dazu, alles wieder an sich zu reißen. Auch die Armeereform, die seit Jahren überhängig ist, wolle er demnächst durch prinzipielle Vorgaben auf den Weg bringen. Es wird erwartet, daß Verteidigungsminister Igor Rodionow auf jeden Fall der Kabinettsumbildung zum Opfer fällt. Im Vergleich mit anderen Heeren führender Nationen hinke die russische Armee technologisch 10, wenn nicht 15 Jahre hinterher.

Mit Blick auf die Nato-Osterweiterung wiederholte Jelzin die „grundsätzlich negative Sicht“, mit der Rußland dem Vorhaben entgegensieht. „Die Zeiten werden kritischer für Europa“, mahnte er. „Ich erinnere daran: Ohne Rußland – und um so mehr gegen es, wird keiner in der Lage sein, jemals ein effektives Sicherheitssystem in Europa zu schaffen.“ Als wichtigstes staatspolitisches Ziel in diesem Jahr nannte er die Integration mit dem Nachbarn Weißrußland. Allerdings schien diese Bemerkung mehr propagandistischen Charakter zu tragen. Zudem stellte er in der Wirtschafts- und Steuerpolitik kardinale Eingriffe in Aussicht. Vieles hängt davon ab, ob er genügend Kraft besitzt, den Augiasstall auszumisten, und ausreichend Macht, den neuen Interessengruppen Paroli zu bieten. Klaus-Helge Donath