: Teeny in Sibirien
■ Die 15jährige Marina Goubenko lebt in der Erdöl-Stadt Kogalym – sehr weit abgeschieden und doch weltverbunden / Sie war zu Besuch in Sulingen
arina Goubenko, bis gestern zu Gast in Sulingen, ist eine junge Frau mit besonderer Herkunft. Einen sichtbaren Bezug zu Vergangenheit und Vorfahren erhält Marina nur, wenn sie sich aus ihrem Heimatort wegbegibt: In Kogalym, einer 50.000 BewohnerInnen zählenden Stadt in Sibirien, gibt es keine mittelalterlichen Stadtmauern, keine traditionsträchtigen Fachwerk- oder Bürgerhäuser, keine steinernen Hinterlassenschaften vorangegangener Generationen. Kogalym ist eine junge Stadt, ebenso jung wie Marina: 15 Jahre alt.
Wie eine Insel liegt Kogalym inmitten der frostigen Endlosigkeit Sibiriens. Die nächste größere Stadt namens Tjumen ist etwa 1.000 Kilometer entfernt, zum Nachbarort sind es „nur“300 Kilometer. Temperaturen von bis zu minus 40 Grad lassen das Land fast das ganze Jahr über im Eis erstarren. Selbst im Juni, wenn eigentlich der zweimonatige Sommer anbricht, fällt zuweilen Schnee. Doch dann taut das Eis und verwandelt das Gebiet hinter dem Stadtrand in einen endlosen Morast: eine unwirtliche Gegend aus weißem Sand und Sümpfen, belebt von Myriaden von Mücken.
Kogalym, das ist „der Ort, an dem alles zuende geht“. So nannten ihn die „Hantiy“, in Aussehen und Lebensweise den Inuit verwandte UreinwohnerInnen, die bis dahin als einzige das Gebiet besiedelt hatten. Nicht die natürlichen Gegebenheiten veranlaßten die Hantiy zu der düsteren Namensgebung. Diese ist vielmehr Ausdruck tiefer Skepsis gegenüber der Moderne, die so plötzlich mit Bohrtürmen und Hightech über ihr ehemaliges Jagdgebiet hereinbrach. Kogalym wurde förmlich aus dem Boden gestampft, wie das Erdöl, das hier in riesigen Blasen unter der sibirischen Erde liegt.
Marina Goubenko liebt Kogalym: „Keine Stadt des Verderbens“, beteuert sie, „es ist eine Stadt der Jugend“. Tatsächlich lockten das schwarze Gold und die Hoffnung auf Reichtum viele junge Menschen aus der ganzen Welt in die sibirische Kälte. Menschen aus Rußland, der Türkei, Deutschland, England, Italien und Kanada leben in der „boomtown“friedlich zusammen. Etwa 80 Prozent der BewohnerInnen von Kogalym arbeiten bei der deutschen Erdölfirma Cat-Oil.
Der inzwischen verstorbene Vater von Marina stammt aus der Ukraine und kam als Techniker nach Kogalym. Marinas Mutter ist Ärztin. „Kogalym ist eine reiche Stadt“, erklärt Marina. „Es gibt zwar auch arme Menschen, aber das sind nur wenige.“Die Löhne in der boomtown liegen um das Zehnfache höher als im übrigen Rußland, und inzwischen ist die Infrastruktur der Stadt so gut ausgebaut, daß es sich, trotz widriger Umstände, dort gut leben läßt.
„Ich vermisse nichts“, versichert Marina. Die beiden Supermärkte der Stadt bieten von der Mode bis zu junger Musik alles, was ein Teenager an Begehrlichkeiten gemeinhin entwickelt. „Ich mag Aerosmith, Madonna, Michael Jackson, die Backstreet Boys.“Manchmal geht Marina am Wochenende in die Disco oder ins Kino, wo die gleichen Filme laufen wie hierzulande. Der Anschluß aus Kogalym an die Welt ist gesichert, auch wenn die Fahrt mit dem Zug in die Nachbarstadt 24 Stunden dauert.
Marina reist viel: In den dreimonatigen Sommerferien fährt sie mit Bruder und Mutter ans Meer oder besucht die zahlreichen Verwandten. Sie war in Moskau, Sankt Petersburg, und im vergangenen Jahr besuchte sie erstmalig Berlin. Dort faszinierten sie vor allem die Gleichaltrigen: Wie sie sich auf den Straßen tummeln, ihr Outfit...
„...und wie die da abhängen“, ergänzt die ebenfalls 15jährige Nora Kröning aus Sulingen, bei der Marina zur Zeit zu Besuch ist. Das „Abhängen“nämlich kennt Marina nicht. Ihr Alltag in Kogalym ist straff organisiert: Täglich besucht sie von 14 bis 19 Uhr die Schule, morgens und abends ist sie meist mit Hausaufgaben beschäftigt. 16 Fächer, dazu gehören zwei Fremdsprachen, fordern ihre ganze Aufmerksamkeit. Doch Marina findet das nicht schlimm. Und schließlich profitierte sie bereits davon: Sie gehört zu den 17 ausgesuchten TeilnehmerInnen der jetzigen, von Cat-Oil finanzierten Reise nach Deutschland, da sie zu den Besten des Deutschlehrgangs zählt.
Störender als das Lernprogramm ist für die ehrgeizige Schülerin die Schuldisziplin. Schminke und das Tragen von Tops oder Miniröcken ist den Girlies absolut untersagt. Bei Zudwiderhandlung droht der Rausschmiß durch den Rektor der Schule. Das findet Marina etwas befremdlich.
Trotzdem freut sich Marina schon wieder auf die Rückkehr nach Kogalym. „Ich liebe meine Stadt, weil sie klein ist und in Ordnung“, erklärt sie. Später einmal will sie in Moskau oder Sankt Petersburg Sprachen studieren. Heute jedoch reist Marina zunächst einmal die 5.500 Kilometer wieder zurück. Dora Hartmann
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