: Überlebte Theorien und Modelle
■ betr.: „Wege aus der Arbeitslosig keit“, taz vom 24. 2. 97
Ja, der gute alte Adam Smith, zu seiner Zeit (1723 bis 1790) sicherlich ein scharfer Analytiker, hat bestimmt nicht im Traum daran gedacht, welche Effizienz- und Rationalisierungsexplosion die Weiterentwicklung der Technik im 20.Jahrhundert mit sich bringen würde. Seine Jünger, wie Herr Scheide vom Institut für Weltwirtschaft, scheinen jedoch die Zeit verschlafen zu haben. Jedenfalls ist ihnen wohl entgangen, daß das Markttreiben zu Zeiten von Herrn Smith doch noch von anderen Rahmenbedingungen bestimmt war, als sie heute herrschen. Damals war eine Zeit des Mangels an vielem und für praktisch alle. Heute hingegen können sehr wenige Produzierende ungeheuer viel herstellen. Tendenzielles Überangebot einerseits und der Versuch, den materiellen Transfer innerhalb der Gesellschaft aufzukündigen andererseits, kennzeichnen die Situation in fast allen Industrienationen (in den armen Ländern sowieso).
[...] Wenn überhaupt noch zusätzliche Märkte für Produkte und Dienstleistungen erschlossen werden könnten, dann im Bereich weniger begüterter Bürger und Bevölkerungsgruppen. Oder aber in den Bereichen sozialer Dienste, für die aber gerade die Mittel zusammengestrichen werden. Leider haben sich Geiz und Gier unter den Begüterten soweit fortgefressen, daß zunehmend Transferleistungen verweigert werden. Steuerhinterziehung und -vermeidung im gigantischen Ausmaß haben bewirkt, daß sich die Behauptung der Sozialstaat sei zu teuer, selbst zu erfüllen beginnt. Daß die Vermögen zuvor vielfach unter Inanspruchnahme gesellschaftlicher Ressourcen, Abschreibungen, Subventionen, Mitwirkung Dritter etc. erst entstehen konnten, wird dabei gern übersehen. Wer wäre denn beispielsweise unter den Bedingungen des Mittelalters oder einer nicht funktionierenden Gesellschaft trotz aller eigenen Tüchtigkeit in der Lage, ein großes Vermögen aufzubauen?
Der materielle Reichtum unserer Gesellschaft war noch nie so groß wie heute. Wenn aber die Habenden dem Gemeinwesen eine angemessene Teilhabe an ihren Einkünften und Gewinnen enthalten, steht natürlich jegliche gemeinschaftliche Aufgabe und ihre Finanzierung in Frage, ob es sich nun um die Bereiche Soziales, Familie, Kultur, Ausbildung, Forschung, Ökologie, Ressourcenschonung, Entwicklung nachhaltiger Kreisläufe etc. handelt. [...]
Grober Unfug ist es, die USA oder Großbritannien als Musterknaben hinzustellen. Beide Länder verfügen beispielsweise im Gegensatz zu Deutschland über kräftig sprudelnde Gas- und Ölquellen, die deren Volkswirtschaft fast unentgeltlich zur Verfügung stehen oder sogar Exporterlöse erbringen. Demgegenüber muß Deutschland den Import von Öl und Gas bezahlen (durch Exporte). Trotzdem weisen gerade die USA und England bis heute ein chronisches Defizit der Handelsbilanz auf. Im Gegensatz dazu hat Deutschland praktisch ohne Unterbrechung und trotz Vereinigung einen riesigen Überschuß in der Handelsbilanz von über 50 Milliarden Mark/Jahr. Allerdings hat keines der drei Länder eine positive Zahlungsbilanz. Nur ein Blinder kann angesichts des Verfalls der sozialen Strukturen, der Verelendung weiter Bevölkerungsgruppen der Auszehrung des Gemeinwesens behaupten, daß die USA hervorragend dastünden. [...]
Die gegenwärtige Situation ist doch dadurch gekennzeichnet, daß ein ungeheurer Kapitalstock vorhanden ist, der flink wie ein Reh über die Geldmärkte der Welt herrscht. Jede sich bietende Chance von spekulativen Gewinnen (ohne eigenen Leistungsbeitrag) wird genutzt. Die gesellschaftlichen Sektoren hingegen, in denen Nachholbedarf besteht, haben hier keinen nennenswerten Zugang. Es kann also nicht darum gehen, daß der Staat die Gelddruckmaschine anschmeißen muß.
Es geht vielmehr darum, mittels gesellschaftlichen Lastenausgleichs überhängiges Kapital, welches beim besten Willen weder im Marktbereich Produktion noch Dienstleistung untergebracht werden und welches erst auf der Grundlage der Funktion der jeweiligen Volkswirtschaft entstehen konnte, zur Finanzierung volkswirtschaftlich überlebensnotwendiger Aufgaben heranzuziehen. Die Bereiche Soziales, Kultur, Familie, Ökologie, Ressourcenschonung und Energiesubvention bieten hier ein überaus reichhaltiges Feld für die sinnvolle Integration und Nutzung vorhandener menschlicher Ressourcen und Qualifikationen (schafft Arbeit!). Dies kann sicherlich nicht funktionieren, wenn weiter die Erhebung von Steuern gerade bei denjenigen stetig gemindert wird, die bereits am meisten Kapitalvermögen besitzen. Insofern spottet es jeder Vernunft, wenn die Koalition den Steuersatz für hohe Einkommen drastisch verringern will. Ähnliches gilt für den Verzicht auf die Vermögenssteuer – so problematisch deren Erhebung auch gewesen sein mag.
[...] Betrüblich und bescheiden, wenn sogenannte Wirtschafts- und Konjunkturforscher, wie Herr Scheide, wenig eigene Phantasie entfalten, sondern sich lediglich auf gebetsmühlenhaftes Widerkäuen überlebter Theorien und Modelle verstehen. Analytisches Denken abseits vorgefaßter Meinungen scheint unbequem, schon gar, wenn man in einer Institution sitzt, die der Regierung Legitimation für ihr närrisches Treiben liefern muß. Gunter Brandt, Kassel
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