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Runtergelogen -betr.: "Wohnen bei abgesenktem Standard", taz vom 18.2.1995

Liebe Leute,

Eurem Artikel möchte ich gerne noch ein paar Fakten hinzufügen, die durch die Behörden immer gerne runtergelogen oder verschwiegen werden.

Seit 1989 gibt der Arbeitskreis Wohnraumversorgung (AKWo) laufend Zahlen heraus, die durch PraktikerInnen gestützt und auch von leitenden MitarbeiterInnen der Sozialbehörde so gesagt werden. Wie wollen damit den Bedarf an Wohnungen aufzeigen und nicht mit den Behörden über Zahlen streiten.

So wie bei Arbeitslosigkeit nur Arbeit hilft, Mittellosigkeit nur mit Mitteln – sprich Geld – begegnet werden kann, kann Wohnungslosigkeit nur mit einer Wohnung wirksam abgeschafft werden. Schauen wir uns aber die Realitäten in Hamburg an: In 1992 standen den 877.658 Haushalten genau 800.784 Wohnungen gegenüber, ein Defizit also von 76.874. Dabei muß gewußt werden, daß durch einen statistischen Trick rund 25.000 Haushalte seit 1990 nicht mehr mitgezählt werden, insgesamt also rund 100.000 Wohnungen fehlen.

Wenn mensch sich dann die Wohnungsbauprogramme anschaut, seit 1992 jährlich mit 5.100 geplant, davon nur 2.200 Sozialmietwohnungen, betrachtet die Abgänge vom Wohnungsmarkt durch Abriß, Zusammenlegung, Zweckentfremdung und Umwandlungen in teuren Wohnraum, so kann sich jede/r selbst ausmalen, wie sich die Entwicklung des preisgünstigen Wohnraums entwickeln wird: Es wird immer weniger und teurer.

Dem stehen 80.000 Menschen ohne eigene Wohnung gegenüber: Nur ein Teil davon ist durch die Behörden untergebracht, das sind rund 50.000. Davon rund 35.000 in Massenunterkünften wie Holz- oder Containerdörfern und den „Wohn“-Schiffen. Rund 3.500 sind in sogenannten Wohnunterkünften untergebracht; in Billigpensionen und Hotels sind noch rund 6.000; in Frauenhäusern und Einrichtungen freier Träger rund 3.000. Die Zahl der Menschen auf der Straße wird durch leitende Mitarbeiter der Behörde zwischen 4.000 und 6.000 geschätzt. Wohn- und Bauwagenplätze gibt es 15 mit wenigstens 1.500 Menschen.

Diese alle – und alle anderen, die über keine eigene Wohnung verfügen – fallen unter den Begriff Wohnungslose. Obdachlose sind „nur“ die, die unter das Polizeigesetz, dem „Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ fallen. Eine differenzierte Beschreibung von Zahlen und Definitionen findet sich in der Broschüre „Ohne eigene Wohnung“, die der AKWo 1994 herausgegeben hat und bestellt werden kann.

Eine Dunkelziffer ist hinzugeschätzt worden: Sie ergibt sich aus Aussagen von KollegInnen sozialer Dienststellen und der Gegenüberstellung der offiziellen Zahlen von Zugereisten im Abgleich zu den Zahlen der Unterkünfte.

Diese Zahlen werden natürlich von den Behörden und den Politikern nicht gerne gehört: Es werden deshalb unterschiedliche Definitionen herangezogen und auf die Ausländergesetze bezug genommen. Ausländische wohnungslose Bürger zählen wir schlicht deshalb mit, weil sie keine Wohnung haben und nach unserem Verständnis in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich kein Mensch ohne eigene Wohnung sein dürfte.

Über die Zahl der Wohnungslosen hinaus gibt es noch Tausende, die eine Wohnung suchen, z.B. weil die Wohnung zu klein oder zu teuer ist, sie aus dem Elternhaus oder der Beziehung raus wollen, usw. Wir kommen dann auf eine Zahl von geschätzt über 120.000 Wohnungssuchende.

Es gibt von Seiten der Sozialbehörde zwar positive Ansätze, die lösen aber das Massenproblem nicht. Wohnungspolitik müßte zu einer präventiven Sozialpolitik werden, tut sie aber nicht, in dieser Stadt ist sie auf dem sozialen Auge blind. Sozialbehörde und Sozialpolitiker müssen ganz anderen Druck auf die Baubehörde und die Wohnungspolitik ausüben, damit Wohnen nicht ein Privileg von Besserverdienenden und Reichen wird.

Helmuth Schmidtke, AKWo

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