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Sozialkürzung sichert das System

Verfassungsgericht hält Einschränkungen beim Krankengeld für grundgesetzkonform und lehnt die Beschwerde einer vierfachen Mutter ab: Gesetzgeber habe Gestaltungsfreiheit  ■ Aus Freiburg Christian Rath

Der Sozialabbau bei chronisch Kranken ist verfassungsgemäß. So entschied gestern das Bundesverfassungsgericht und lehnte damit eine Beschwerde gegen die seit Jahreswechsel geltende Krankengeldkürzung ab. Eine Mutter von vier Kindern hatte die Kürzung als „familienfeindlich“ kritisiert.

Zum Jahreswechsel, so hat der Gesetzgeber verfügt, bekommen Langzeitkranke statt ehemals 80 Prozent nur noch 70 Prozent des bisherigen Regelentgelts als Krankengeld ausbezahlt. Nach einer Untersuchung von Bremer Sozialforschern (taz vom 10. 3. 97) verliert ein Facharbeiter mit der Kürzung 260 Mark im Monat – obwohl gerade chronisch Kranke oft Mehrkosten tragen müssen.

Gegen diese Kürzung hatte eine Mutter Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ihre Unterhaltspflichten für vier minderjährige Kinder hätte der Gesetzgeber berücksichtigen müssen, klagte sie. Die Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Danach sei es verboten, ungleiche Sachverhalte über einen Kamm zu scheren.

Mit dieser Argumentation hatte sie beim Verfassungsgericht keinen Erfolg. Eine mit drei Richtern besetzte Kammer nahm die Beschwerde erst gar nicht zur Entscheidung an. Im Bereich der Sozialgesetzgebung habe der Gesetzgeber nun mal „Gestaltungsfreiheit“. Leistungskürzungen seien möglich, wenn sie die „Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems im Interesse aller“ erhalten. Auch im konkreten Einzelfall seien keine Grundrechte verletzt. Da der Gesetzgeber die Höhe des Krankengeldes am Nettoentgelt bemesse, berücksichtige er via Steuerrecht bereits Familienstand und Unterhaltspflichten.

Die Kürzung des Krankengeldes war von der Bundesregierung im gleichen Gesetz wie die Kürzung der Lohnfortzahlung angeordnet worden. Nach Angaben des gewerkschaftlichen WSI-Instituts war aber auch hier in manchen Branchen (Chemie, Metall, Druck) das Krankengeld tariflich wieder auf den alten Satz aufgestockt worden – was dann aber nicht die Krankenkassen, sondern die Arbeitgeber bezahlen müssen.

Mit der Absenkung wollte Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) verhindern, daß das Krankengeld als Frührente mißbraucht wird. „Wir haben bisher aber keine spürbaren Änderungen im Versichertenverhalten festgestellt“, heißt es dazu bei der AOK Bayern. (Az.: 1 BvR 1903/96)

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