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Doppelt lernen oder was?

Experten streiten sich über Sinn und Zweck einer Berufsausbildung vor dem Studium: Zeichen für Schwäche oder sinnvoller Einstieg?  ■ Von Matthias Fink

Die StudienanfängerInnen werden immer älter. Im Westen Deutschlands macht inzwischen jeder sechste vor dem Studium eine Berufsausbildung – Mitte der 80er Jahre war es nur jeder zehnte. Ebenfalls bei zehn Prozent liegt die Quote heute im Osten. Von Seiten der Wirtschaft wird bisweilen über verschenkte Mühen und Ausgaben geklagt, wenn die fertigen Lehrlinge anschließend an die Uni ziehen. Und wer weiß schon, ob sie wirklich nach dem Studium zurückkehren? Doch die doppelte Ausbildung wird auch mit volkswirtschaftlichen Argumenten kritisiert. Kann sich die Gesellschaft diesen Luxus leisten?

Christof Helberger und Felix Büchel vom Fachbereich Wirtschaft und Management an der Technischen Universität Berlin veröffentlichten Anfang 1995 eine Studie, die die Chancen von Universitätsabsolventen mit und ohne Berufsabschluß vergleicht. Das Ergebnis erfreut Anhänger sauber getrennter Ausbildungswege. Studierende hätten durch den bereits erworbenen Berufsabschluß in der Regel keine Vorteile. Im Gegenteil: Ein vorher erworbener Lehrabschluß wirke sich „signifikant negativ auf die Übergangschancen in adäquate Beschäftigung aus“, so Helberger und Büchel. Warum aber sollen Doppelqualifizierte „leistungsschwach“ und risikoavers“ sein, wie es in der Studie heißt?

Durch die Doppelausbildung kämen Charaktereigenschaften ans Licht, die bei den Arbeitgebern wenig erwünscht seien, folgern Helberger und Büchel: Es gebe Belege dafür, daß das nachträgliche Studium eine mangelnde Motivation offenbare. Wer sich erst nach einem Berufsabschluß immatrikuliere, gehe das Risiko, an der Uni zu scheitern, bewußt erst dann ein. Mit dem ersten Zertifikat in der Hinterhand sei man im Zweifelsfall leichter in der Lage, das Studium auch wieder abzubrechen.

Doch auch die Herkunft derer, die sich zweimal ausbilden lassen, verheißt laut Helberger und Büchel nichts Gutes für den zu erwartenden Werdegang an und nach der Universität. Sie kämen überproportional aus Elternhäusern mit niedrigerem Bildungsniveau. Und: „Wenn die Kinder von bildungsschwächeren Eltern ,untypisch‘ einen Abitur-Abschluß erreichen, so zeigt sich, daß dieser Abschluß die zuvor in der Schule beobachtete Chancenungleichheit keineswegs zu nivellieren vermag.“ Zu ganz anderen Ergebnissen kommen die Hochschulforscher Karl Lewin und Karl-Heinz Minks vom Hochschul-Informations-System (HIS) in Hannover in ihrer Studie „Abitur – Berufsausbildung – Studium“, die im vergangenen Herbst veröffentlicht wurde. Herausgefordert von der These der Berliner Kollegen werteten sie Datenbestände aus, die die HIS teilweise langjährig angelegt hatte.

Daß AbiturientInnen, die aus weniger akademisch geprägten Familien kommen, öfter erst mal eine Lehre machen, bestätigt auch die HIS-Untersuchung. Allerdings ziehen Lewin und Minks ihre Schlüsse nicht ausschließlich aus dem Bildungsniveau der Eltern. Statt dessen ziehen sie die Abiturnoten der StudentInnen heran. Dabei stellte sich tatsächlich heraus, daß die, die sofort von der Schule auf die Uni wechselten, häufiger sehr gute Noten hatten. Dies überrascht aber nicht, wenn man die zahlreichen Fächer bedenkt, die durch Numerus-clausus- Regelungen eine jahrelange Wartezeit erfordern. BewerberInnen mit nicht herausragenden Noten können diese Zeit sinnvoll mit einer Lehre nutzen.

Und diese Lehre scheint auch nicht zu schaden, wenn man der Studie glauben darf: „Signifikante Notenunterschiede sind bei keiner der hier ausgewiesenen Fachrichtungen zu erkennen“, lautet das Fazit. Untersucht wurden Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft und Humanmedizin.

Vor allem beim Studienverlauf zeigt sich in der HIS-Studie, daß die Studierenden mit vorangegangener Lehre mehr leisteten. Während sie beim Beginn des Studiums zwei bis drei Jahre älter waren als die frischen AbiturientInnen, schrumpfte ihr Altersvorsprung bis zur Exmatrikulation auf ein Jahr.

Betrachtet man das Einkommen, über das die Untersuchten kurz nach dem Studium verfügten, sowie ihre berufliche Position, liegen diejenigen mit Berufsausbildung durchschnittlich im Mittelfeld. Die geradlinigen AkademikerInnen hingegen finden sich eher an den Rändern: Sie haben häufig sehr hohe oder sehr niedrige Positionen und entsprechende Einkünfte.

Helberger sieht seine Studie durch das HIS-Zahlenwerk nicht widerlegt und kritisiert weiterhin den Entschluß zur Doppelqualifikation: „Wir bleiben dabei, daß diese Strategie sich nicht auszahlt und daß sie von Sicherheitsüberlegungen motiviert wird.“

Die Studien „Abitur – Berufsausbildung – Studium“ (HIS) und „Bildungsnachfrage als Versicherungsstrategie“ (Büchel/Helberger) sind nachzulesen in den „Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“, Heft 3/96 und 1/95 der Bundesanstalt für Arbeit.

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